Warten auf den Tornado

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Das Kind hat wieder einmal ein Buch geschrieben, dazu faltet es Zeichenblätter, bemalt sie und diktiert mir den Text, den es auf den Seiten lesen möchte.

Das Kind hat wieder einmal ein Buch geschrieben, dazu faltet es Zeichenblätter, bemalt sie und diktiert mir den Text, den es auf den Seiten lesen möchte. Sein Debüt feierte das Kind mit seiner Autobiografie, ein schnell zu lesender Vierseiter, da Buchtitel und -inhalt quasi ident sind. Auf den Titel „Das bin ich und das ist mein Haus und das ist mein Kindergarten“ folgt die Geschichte „Das bin ich und das große Haus ist mein Haus und das ist mein Kindergarten.“ Und aus.

Mittlerweile ist das Kind entwicklungstechnisch weiter, weswegen es sich literarisch auch anderen Themen widmet. Das jüngste Werk wird von wild gemalten Kreisen dominiert, die Tornados darstellen. Das Buch heißt nämlich „Oh, du wunderschöner Tornado“, eine Ode an ein nicht ganz ungefährliches Naturphänomen also, die sich auch im Inneren des Buches niederschlägt: „Oh, du wunderbarer Tornado, ich wünschte, ich könnte dich bald sehen. Du bist so wunderschön.“ Ähnlich gelagert ist der Inhalt auf den Seiten 2 ff. („Du wunderschöner ...“), auch der Wunsch des baldigen Kennenlernens wurde trotz meiner Warnung, dass dies eigentlich gar nicht so wünschenswert sei, mehrfach festgehalten. Sie sehen schon: Repetitio und Redundanz sind die derzeit bevorzugten Stilmittel des Kindes.

Das Kind schreibt auch gern Briefe, besonders an mich, und besonders dann, wenn wir uns ohnehin im selben Zimmer aufhalten. Neulich musste ich, es war die eher angespannte Zeit zwischen Frühstück und Aufbruch, einen Briefkasten basteln, suchte so hektisch wie vergeblich das Stanleymesser, schnitt dann mit einem Buttermesser und dem pädagogisch wertvollen Zusatz „Das darf man niemals machen, eigentlich, gell“ einen Schlitz in den Karton. Das Kind warf das Kuvert ein und war glücklich. Auf dem Umschlag stand „Für Mama von Wien“ und über so einen spontan verliehenen Adelstitel freut man sich natürlich sogar, wenn man im Pyjama und mit leichten Schnittverletzungen in der Küche steht, während man eigentlich gleich in der Arbeit sein sollte.

Und dann fragen mich die Leute oft, wieso ich immer so spät komme.

E-Mails an: mirjam.marits@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.03.2015)

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