Gefangener der eigenen Haut

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Seit ich von dem (mutmaßlichen) erweiterten Suizid des Lufthansa-Piloten Andreas L. erfahren habe, muss ich an den unheimlichsten Film denken, den ich je gesehen habe:

„Seconds“ von John Frankenheimer, mit Rock Hudson in der Hauptrolle. Es ist die Geschichte eines reichen, unglücklichen Mannes, der von einer Geheimorganisation das Angebot bekommt, in die Haut eines Fremden zu schlüpfen, um endlich das erträumte Leben eines Malers in Kalifornien leben zu können. Doch die neue Existenz erweist sich nicht besser als die alte, Glamour und grandiose Kulisse können die innere Leere des vermeintlich glücklichen Wiedergeborenen nicht füllen – von der Vergangenheit eingeholt, ereilt ihn ein Ende mit Schrecken, das ich an dieser Stelle nicht verraten werde. Nur so viel: Schauen Sie sich den Film besser nicht an, wenn Ihnen eine Operation bevorsteht.

Von außen betrachtet mag L. wie ein Glückskind gewirkt haben: Er war jung, vital und übte seinen Wunschberuf aus. Vermutlich war seine Selbstwahrnehmung viel düsterer als diese rosige Außensicht. Und die Tatsache, dass er den Traum vom Fliegen verwirklichen konnte, hatte auf seine Niedergeschlagenheit wohl keinen Einfluss. Dass die seelische Befindlichkeit über dem materiellen Koordinatensystem zu schweben scheint, ist eine Erfahrung, die die meisten von uns gemacht haben. Ich für meinen Teil glaubte als junger Mann, dass ein längerer Aufenthalt im (möglichst fernen) Ausland mich zu einem besseren, interessanteren Menschen machen würde. Nach einem bald zwanzigjährigen Berufsleben, das mich nach Tokio, New York und nun Brüssel geführt hat, weiß ich, dass Karl Marx nicht recht hatte, als er die Behauptung aufstellte, das Sein forme das Bewusstsein: Überall dort, wo ich hingegangen bin, nahm ich das alte Selbst mit, das ich eigentlich an der letzten Zwischenstation zurücklassen wollte. Mit dem Alter reifte die Erkenntnis, dass es keinen Sinn hat, aus dem Gefängnis der eigenen Haut auszubrechen, sondern dass es besser ist, es sich in der eigenen Zelle möglichst gemütlich zu machen. Es funktioniert erstaunlich gut. Andreas L. wird diese Erfahrung nicht mehr machen können.

E-Mails an:michael.laczynski@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.04.2015)

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