Leute, die beim Gehen ein Buch lesen

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Real book statt Facebook – die wandelnden Handyzombies erfahren eine Gegenbewegung.

Beim Gehen geradeaus zu schauen ist ja ohnehin schon exotisch. In der Regel ist der Blick auf ein Display irgendwo zwischen Augen- und Beckenhöhe gerichtet. Nur gelegentlich scannen die Augen hektisch die Umgebung, um etwa dem plötzlichen Angriff eines Halteverbotsschilds auszuweichen oder in der Mariahilfer Straße nicht von einer Todeskante in den Höllenschlund zu stürzen. Cineasten fühlen sich beim Schritttempo und der wankenden Zielsicherheit der Mobiltelefonwanderer ein wenig an George A. Romeros „Night of the Living Dead“ erinnert. Und jetzt stellen Sie sich einmal vor, Ihnen kommt irgendwo in der Neustiftgasse einer dieser Handyzombies entgegen: gebeugter Oberkörper, gesenkter Blick und die rechte Hand im rechten Winkel nach vorn gestreckt. Plötzlich hebt er die linke Hand – doch er macht keine Wischbewegung. Sondern blättert eine Seite in einem Buch um – Sie wissen schon, das ist dieses analoge Tablet, auf dem immer nur ein Roman Platz hat und für das man kein WLAN braucht.

Jedenfalls navigiert dieser lesende Analogzombie mit schlafwandlerischer Sicherheit durch den Slalomparcours aus Menschen, Hundekot und Verkehrsschildern – ganz genau, die Wege entstehen im Gehen, und die Stadt gehört dir. Vermutlich ist das ja wieder so ein Retro-Hipster-Ding, eine Gegenbewegung zum digitalen Mainstream, die schon bald zum kleinen Massenphänomen erhoben wird. Das dann natürlich auf andere Fortbewegungsarten ausgeweitet wird – warum nicht auch einmal ein Lesemarathon? Und schon malt man sich aus, was als Nächstes kommen könnte. Der tragbare Vinylplattenspieler für die Post-iPod-Generation vielleicht? Ein Festnetztelefon mit Kabelrolle für unterwegs? Dann kommt das Urban Stolpering über die vielen Telefonkabel – und irgendwann schauen wir beim Gehen vielleicht auch wieder, wohin wir gehen. Geht schon!

E-Mails an: erich.kocina@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.06.2015)

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