Marx allein zu Hause

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Ob der Kapitalismus an seinen inneren Widersprüchen zugrunde gehen wird, ist freien Auges weiterhin nicht klar zu erkennen.

Ob der Kapitalismus an seinen inneren Widersprüchen zugrunde gehen wird, wie es uns die Marxisten seit eineinhalb Jahrhunderten in Aussicht stellen, ist freien Auges weiterhin nicht klar zu erkennen. Von der Kunstbiennale in Venedig dürfen wir allerdings zumindest eine an Gewissheit grenzende Mutmaßung berichten: Der Marxismus wird nicht an seine Stelle treten. Dort wird unter anderem „Das Kapital“ im Hauptpavillon der Giardini seit Anfang Mai täglich zur Verlesung gebracht. Neugierig und in der zarten Hoffnung, zu Zeugen der historischen erneuten Verbrüderung der Denker und Arbeiter im Ringen mit der kapitalistischen Entfremdung zu werden, suchten wir den Ort auf, wo der Künstler Isaac Julien dieses „Marx-Oratorium“ in einer prachtvollen Arena inszeniert, deren blutrote Teppichauslegeware so manchem sowjetischen Kulturkommissar die eine oder andere Träne der Rührung in die Augen getrieben hätte.

Dort lasen zwei junge Schauspieler aus einem der Länder der jugoslawischen Nachlassmasse Marx' Erwägungen über den Mehrwert, und ihre aufrichtige Inbrunst mag sich daraus erklären, dass sie es der Gnade der späten Geburt verdanken, nicht am eigenen Leib erfahren zu haben, wie schön das Leben im real existierenden Sozialismus titoistischer Prägung war. Auf den Zuschauertribünen allerdings herrschte gähnende Leere: Wir erspähten erst nach dem Erklimmen des zweiten Ranges ein junges Pärchen, das sich statt revolutionärer Erbauung einer Siesta hingab.

Der Regisseur Julien wird sich über diesen Misserfolg im Feld des dialektischen Materialismus trösten können: vielleicht bei einem der Projekte, die er für die Kunststiftung des Bonzenbolidenherstellers Rolls-Royce verfolgt, zum Beispiel „Stones against Diamonds“, einem Film, der ihn, wie Rolls-Royce verkündet, an den Konzernsitz Goodwood führte, wo er „die einmalige Mischung von makellosem Ingenieurswesen und zeitloser Handwerkskunst studieren konnte, die jedem Rolls-Royce-Auto eigen wird“.

E-Mails an: oliver.grimm@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.06.2015)

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