Das Land der Griechen mit der Seele suchend

(c) Bloomberg (Yorgos Karahalis)
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Wenn es im Sommer in den Süden ging, dann auf eine griechische Insel in der Ägäis.

Eine von jenen Inseln, auf denen die Straßen weiß gekalkt sind und alle Kuppeln blau. Wo jede Ecke ein Ansichtskartenmotiv ist: Die üppig wuchernde Bougainvillea, die schlafende Katze, der alte, zahnlose Mann vor seiner Haustür.

Gesprochen wurde ohne Unterbrechung, überall, und die griechischen Wörter, die wir Kinder uns bald merkten, waren: „siga siga“. Langsam, langsam. Das hörte man, wenn die Fähre nicht ging (die fuhr immer „morgen“), der Bus nicht bei der Haltestelle hielt, sondern irgendwo, die Dusche abgesperrt war, weil das Wasser knapp war, oder wenn man sich fassungslos fragte, warum nur ein Taxi vor dem Flughafen wartete, wenn gerade ein Flugzeug mit 100 Passagieren angekommen war. Diese Insel, diese Gelassenheit, diese Unordnung, die in sich schon wieder eine Ordnung hatte (alles fließt), die unglaubliche Herzlichkeit gegenüber Kindern, das alles wurde mein Griechenland.

Viel später, in der Oberstufe, kam ein anderes Griechenland dazu, das humanistische, das philosophische. „Das Land der Griechen mit der Seele suchend“, zitierte der Deutschlehrer mit größter Begeisterung Goethe. Der perfekte Blankvers, die Vollendung der Suche deutscher Dichter nach dem Griechenland ihrer Sehnsucht. Richtige Humanisten wandten ihre Sprachkenntnisse dann auch ganz unbeirrt in der Moderne an. Unvergessen bleibt der Arzt, der einen entgeisterten Fischer auf Altgriechisch fragte: „Fährmann, wann setzt du über?“

In den vergangenen Jahren ist noch ein Griechenland hinzugekommen. Das Land der Korruption und des Betrugs: Die griechische Übertreibung, einst wichtiger Bestandteil des Pathos, verdreht in pure Anmaßung.

Egal, was wir den Griechen jetzt vorschreiben und vorwerfen, die Griechenland-Bilder, die jeder von uns hat, sentimental, akademisch, politisch, bestimmen den Diskurs. Dabei vergisst man manchmal, dass es Menschen sind, um die es da letztlich geht.

E-Mails an: friederike.leibl-buerger@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.07.2015)

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