Zum Zuhören beim lauten Denken degradiert

(c) APA/ROLAND SCHLAGER (ROLAND SCHLAGER)
  • Drucken

Der Moment, in dem man von anderen Menschen als stumme Denkhilfe benutzt wird.

Ich denke jetzt nur laut. Zugegeben, hören können Sie das nicht, das ist ein Nachteil der geschriebenen Sprache, aber nehmen wir an, jemand würde in einem Dialog mit genau diesen Worten zu einem Redeschwall ansetzen. Was genau steckt dahinter? Dass das Gegenüber in Wirklichkeit noch gar keine Ahnung hat, welche Meinung es jetzt eigentlich vorbringen will? Klar, woher soll jemand wissen, was er denkt, bevor er hört, was er sagt? Tatsächlich hat lautes Denken durchaus seinen Sinn. Sich einsam das Hirn zu zermartern bringt deutlich weniger, als einem armen Tropf seine Gedankengänge frisch geschlüpft auf dem Tablett zu servieren. Gerade in einem kreativen Tief ist es eine bewährte Taktik, sich jemanden zu suchen, der sich unter dem Vorwand, dass man seine Meinung wissen will, das Für und Wider anhören muss, zwischen dem man gerade schwankt. Da sitzt nun das Opfer, lauscht andächtig den Ausführungen. Und ist doch nur ein potemkinscher Zuhörer, weil lautes Denken ohne Widerpart gesellschaftlich nicht allzu anerkannt ist. Denn kaum hat der Lautdenker zu sprechen begonnen, fügen sich in seinem Gehirn all die Puzzleteile zusammen, die vorher in der Selbstzermarterung nicht zueinanderfinden wollten.

Manchmal wird das laute Denken auch als Frage getarnt: „Darf ich dich um deine Meinung fragen?“ Es folgt ein genauer Problemaufriss, dem man andächtig lauscht. Und in dem Moment, in dem der Zuhörer zu einer Antwort ansetzen will, wird der Fragende gerade von seiner intellektuellen Niederkunft überrascht. Ist es ein netter Mensch, gibt er nun zumindest noch vor, der Antwort zuzuhören. Ist er das nicht, legt er eine 180-Grad-Drehung hin und geht ab. „Du hast mich benutzt“, möchte man ihm dann hinterherrufen. Aber man belässt es dann meist doch nur beim Gedanken. Manche Dinge denkt man lieber nur leise.

E-Mails an: erich.kocina@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.07.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.