Nachwahlbetrachtung mit Balthasar Gracián

Wie uns ein frühbarocker spanischer Jesuit beim Verständnis des Wiener Wahlergebnisses hilft.

Ein guter Freund hat mir zu meiner Hochzeit das Reclam-Heft „Handorakel und Kunst der Weltklugheit“ des spanischen Gelehrten Balthasar Gracián geschenkt, und was uns dieser frühbarocke Jesuit für die Bewältigung des Lebens auf den Weg mitgibt, ist nicht nur angehenden Eheleuten nützlich, sondern auch beim Unterfangen dienlich, sich einen Reim auf Wahlergebnisse zu machen.

„Dem Klugen nützen seine Feinde mehr als dem Dummen seine Freunde“, lautet beispielsweise Graciáns Aperçu Nr. 84. Damit ist die Strategie der SPÖ auf den Punkt gebracht, diese Gemeinderatswahl zu einem „Duell“ mit der FPÖ aufzubauschen, wofür bei nüchterner, unparteiischer Betrachtung kein Anlass bestand. Den Absturz der ÖVP, die unbeirrbar an erwiesenen Minderheitenpositionen festhielt und unter anderem Aufkleber mit dem Spruch „Autofahrer sind auch nur Menschen“ verteilte, musste der Leser Graciáns erwarten, denn dieser schrieb unter Nr. 30: „Aber es gibt Leute von wunderlichem Geschmack, welche immer nach dem greifen, was die Weisen verworfen haben, und dann in diesen Seltsamkeiten sich gar sehr gefallen.“

Den Erfolg der Freiheitlichen, die mangels Koalitionsmöglichkeiten in Wien wohl nie in die Verlegenheit kommen werden, den Bürgermeister stellen zu müssen, kann man mit Graciáns Nr. 189 besser verstehen: „Die Politiker . . . versprechen sich mehr von der Leidenschaftlichkeit der Sehnsucht als von der Lauheit des Besitzes.“ Die grüne Vizebürgermeisterin ihrerseits hätte die Kritik der Unwahrhaftigkeit vermieden, der sie nun unterzogen wird, wenn sie sich eingedenk des Sinnspruchs Nr. 3 vor ihrer Rücktrittsdrohung selbst ermahnt hätte: „Behutsames Schweigen ist das Heiligtum der Klugheit.“ Den Neos schließlich wäre die Zitterpartie um den Einzug in den Gemeinderat vielleicht bei Beherzigung von Graciáns Nr. 33 erspart geblieben: „So sehr darf man nicht allen angehören, dass man nicht mehr sich selber angehörte.“

E-Mails an: oliver.grimm@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.10.2015)

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