Die goldene Gans von Georgetown

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Es ist vermutlich nicht sehr modisch, heutzutage so etwas zu sagen, aber wenn ich mir einen katholischen Lieblingsheiligen aussuchen dürfte, dann wäre es vermutlich Martin von Tours.

Im vierten Jahrhundert im heutigen Ungarn als Sohn eines römischen Offiziers geboren (wir wollen zum Zweck des Argumentes der hagiografischen Überlieferung Glauben schenken und die Lupe strenger historischer Prüfung heute in der Schreibtischschublade lassen), Kriegsdienstverweigerer, der erste in der Westkirche, der nicht eigens einen Märtyrertod sterben musste, um als Heiliger verehrt zu werden, Schutzpatron der Soldaten und Polizisten ebenso wie der Bettler, Flüchtlinge und Reisenden, der Winzer ebenso wie der Abstinenzler und auch der Ausrufer, also sozusagen der Journalisten. Die berühmte Geschichte mit seinem Mantel, den er an einem Wintertag vor den Stadttoren von Amiens mit einem Bettler teilte, sollte man sich dieser Tage angesichts der Flüchtlingsnot ebenso hinter die Ohren schreiben wie, in unserem Zeitalter der ständigen Selbstbewerbung, den Anlass dafür, dass wir zu Martini Gänse verspeisen: weil ihn eine Schar ebensolcher laut schnatternd verraten haben soll, als er sich in ihrem Stall versteckte, weil er sich selbst des Bischofsamtes unwürdig empfand.

Ein Freund der Armen, ein bescheidener Mensch, und noch dazu ist Gänsebraten eine feine Sache: Ein Martinigansl sollte auf den Washingtoner Festtagstisch. Doch woher nehmen? Fleischhauer gibt es hier kaum, solche, die Gänse im Sortiment führen, noch weniger. In Georgetown fanden wir einen, der eine Gans liefern wollte: um 16,99 Dollar pro Pfund, also umgerechnet gut 180 Euro für ein durchschnittlich großes Tier. Wir lehnten erschüttert ab. War das ein Ausreißer? Nein: Auch ein Geflügelgroßhändler verlangte ähnliche Preise. Letztlich kredenzten wir unseren Gästen einen gebratenen Truthahn. Für nächstes Jahr erwäge ich den Erwerb eines Schießgewehrs; die Kanadagänse in Washingtons Teichen und Tümpeln wirken allzu sorglos . . .

E-Mails an: oliver.grimm@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.11.2015)

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