Warum mein Christbaum heuer kralawatschert ist

(C) Freitag
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Wenn der Kreisbohrer kreischt und die Kettensäge schreit, ja dann ist das Weihnachtsfest nicht weit.

Vor dem Rathaus steht er schon, der magistratische Christbaum, prächtig anzusehen Jahr für Jahr aufs Neu. Dass er so prächtig anzusehen ist, das hat ihm selbstredend nicht die Natur einfach in die Astgabeln gelegt, da hat's schon ordentlich Zupacken gebraucht: 70 Äste haben ihm die Wiener Stadtgärtner heuer in den 110 Jahre alten Stamm geschraubt, war jüngst auf orf.at zu erfahren, und das sei noch gar nix: „Wir hatten schon Jahre, da mussten wir 150 zusätzliche Äste einarbeiten.“ „Einarbeiten“: Da hört man gleich die Glöcklein klingen, liegt Zimmet und Mandelstern in der Luft.

Je nun, die Natur, sie ist eben eine eher schlampige Gesellin, bald einmal kommt etwas ein bisserl krumm daher oder ist überhaupt kahl geblieben, ganz zu schweigen davon, was auf so einem Transport aus dem Tiroler Hochwald bis in die Bundeshauptstadt passiert. Man muss sich nur vorstellen, wie unsereiner beisammen wäre, 110 Jahre alt, nach 675 Kilometern on the road, quer durchs Land. Und wo wir uns ja auch selbst immer öfter Falten glatt ziehen, schiefe Nasen zurechtbiegen, Brüste aufsilikonieren lassen, weil wir das, was ist, so gar nicht mehr in Einklang bringen können mit dem, was und vor allem wie es unserer Meinung nach sein soll, da wird das bisserl Reisigkosmetik für den städtischen Christbaum noch drin sein: auf dass er so naturnatürlich ausschaut wie nichts sonst in der Natur. Und damit vor allem die „Lichterkette optimal montiert werden“ kann, was sonst wäre von Belang dort, wo es um den rechten, den echten Weihnachtszauber geht?

Ich meinerseits werde mir heuer einen Christbaum suchen, wie ihn keiner mag. Einen, der hinten in der letzten Ecke steht, nicht gar so brav, nicht gar so ebenmäßig gewachsen, ein bisserl kralawatschert halt. Weil ja auch sonst nicht immer alles so grade geht, wie man's gern hätt'. Und außerdem: Im milden Kerzenschummer sieht man's eh nicht mehr genau.

E-Mails an: wolfgang.freitag@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.11.2015)

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