Weil ein Abort noch kein Unort sein muss

(C) Freitag
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Unter die Erde kommen will ja keiner von uns. Jedenfalls nicht so bald. Und schon gar nicht gleich heute.

Aber manchmal muss es halt sein. Beispielsweise wenn man auf dem Wiener Graben steht, mehr so den Tuchlauben zu, und ein irgendwie doch ziemlich dringendes Drängen in sich spürt, eher zügig die gewissen Stiegen hinunter in das innerstädtische Souterrain zu steigen: in die öffentliche Toiletteanlage, die da seit mehr als 110 Jahren uns ihren Erleichterungsdienst offeriert.

Am 16. März 1905 ist sie dem „Neuen Wiener Tagblatt“ sogar eine ausführliche Würdigung wert: „Dieser Tage ist die neue Bedürfnisanstalt auf dem Graben, unter dem Brunnen mit der Josefsstatue, eröffnet worden. Es gab der Natur der Sache nach keine Eröffnungsfeier mit Ansprachen, aber weil diese neue Anstalt in mehrfacher Beziehung eine Sehenswürdigkeit ist, so verdient sie wohl, von der Presse mit einigen Worten eingeführt zu werden.“ Die da summa summarum wären: „Alles praktisch, modern und massiv, förmlich auf Jahrhunderte berechnet, und zugleich mit einem poetischen Einschlage.“

Heute reicht der Ruhm der Örtlichkeit bis hinein in die kundigeren der Wien-Reiseführer, was für Lokalitäten dieses Typus doch eher ungewöhnlich ist; und Wikipedia ist sie einen eigenen Eintrag wert: als „letzte erhalten gebliebene öffentliche Jugendstiltoilette Wiens“. Vom Rang der Sehenswürdigkeit freilich, den man ihr schon quasi vom ersten Tage an bescheinigte, ist sie dennoch mittlerweile ein ordentliches Stück entfernt. Die zwei Streifen Baustellen-Absperrband in bekannt-charmantem Rot-Weiß, die seit – mindestens – Monaten eine Seite des Pissoirs vor etwaiger Benutzung schützen wollen, vermitteln einen Eindruck, der mit jenem eines Top-Sights, und sei es auch eines der etwas anderen Art, gewiss nicht in Einklang zu bringen ist. Abgesehen davon, dass die an selber Stelle sichtbaren obskuren Ablagerungen allenfalls für Urologiehistoriker von Interesse sein mögen. Dass ein Abort ein Ab-Ort ist, liegt in der Natur der Sache. Er muss ja nicht gleich ein Unort sein.

E-Mails an: wolfgang.freitag@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.11.2015)

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