Es hatte gefühlt minus 20 Grad

Veraergerte Frau
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Wenn jetzt noch einmal jemand von gefühlten Irgendwas spricht oder schreibt, werde ich zum gefühlten tausendsten Mal einen Amoklauf hinlegen.

Wenn jetzt noch einmal jemand von gefühlten Irgendwas spricht oder schreibt, werde ich zum gefühlten tausendsten Mal einen Amoklauf hinlegen, wobei man eigentlich nicht mehr von Amoklauf reden sollte, wenn man nur meint, dass man sich ärgert. Die sprachlichen Eskalationsstufen gehören neu überprüft, da ist viel zu viel Übertreibung und Aggression drin, auch wenn diese nur gefühlt und nicht ausgelebt wird. Grundsätzlich ist also Abrüsten angesagt.

Wo Superlative nicht mehr ausreichen, haben ohnehin schon seit Längerem die Gefühle übernommen, mithilfe derer man Fakten einfach übergehen kann. Die gefühlte Temperatur hat ja noch einen nahezu wissenschaftlichen Hintergrund, da sich die tatsächliche Temperatur mit Wind und Feuchtigkeit nachweislich anders anfühlt. Aber warum man gefühlt zwei Stunden wartet, gefühlt sehr lange unterwegs ist und mit Menschen zu tun hat, die gefühlt Mitte 20 sind, das bleibt ein Rätsel. Man könnte auch sagen: „Es hat ur lang gedauert und war ur weit weg“, das hat den gleichen Aussagewert. Aber so schlicht drückt man sich nicht aus, man lädt Banales mit bedeutender Verfremdung auf, ohne Fakten zu nennen oder zu kennen.

Dass es in der Kommunikation grundsätzlich egal ist, was man sagt, weil zählt, wie es beim Empfänger ankommt, haben wir schon vor einem gefühlten Jahrhundert gelernt und dennoch nicht umsetzen können. Wie denn auch? „Weißt du eigentlich, wie es mir geht, wenn du so mit mir sprichst?“ „Nein“, möchte man schreien, „damn it, wie soll ich fühlen, wie du fühlst, während ich das sage, was sich für mich richtig anfühlt?“

Übrigens hat sich unlängst jemand für seine Wortwahl entschuldigt, die so rüde war, dass ich mich dabei wirklich unwohl gefühlt habe. Aus dem Gespräch wurde dann ein richtig schöner Moment der gegenseitigen Wertschätzung. Kurz darauf waren aus einer anderen Ecke ein paar gemurmelte Fluchworte zu hören. Sie hingen noch eine gefühlte Ewigkeit in der Luft.

E-Mails an: friederike.leibl-buerger@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.11.2015)

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