Strafe für die Bequemlichkeit

(c) FABRY Clemens
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Es war der längste Trainingslauf meines Lebens: Exakt zwei Stunden und 51 Sekunden lief ich am vergangenen Samstag durch Wien.

Und das bei Wind und Wetter. Oder besser gesagt: bei mal mehr, mal weniger intensivem Schneefall. Nach 18 Kilometern, die mich über den verschneiten Donaukanal und die weiße -insel führten, wähnte ich mich am Ziel. Zu früh, wie sich herausstellte. Denn obwohl ich schon vor meinem Wohnhaus stand, sollte die Herausforderung erst jetzt wirklich beginnen.

Von der wohlverdienten warmen Wohnung trennten mich nämlich noch sechs Stockwerke. Sie konnte – oder wollte – ich nicht zu Fuß bewältigen. Also lieber mit dem Lift. Ihn blockierte aber gerade mein Nachbar, der seinen Wochenendgroßeinkauf Stück für Stück einlud. Ein Geduldsspiel – das ich verlor. So bat ich ihn, mich nach oben fahren zu lassen und versprach, Bier, Wein und Knabberzeug sofort zurück ins Erdgeschoß zu schicken. Doch der Plan scheiterte – irgendwo zwischen Stock drei und vier. Da kam ich abrupt zum Stehen – und sollte dort so einige Zeit bleiben. Normalerweise würde es bis zum Eintreffen des Liftnotdienstes maximal eine halbe Stunde dauern, heute aber falle in Wien Schnee, teilte mir die per Notknopf gerufene Stimme mit. Dabei sollte sie doch eigentlich für Beruhigung sorgen. Nun unterhielt mich der wegen meiner Hilferufe (oder vielleicht auch wegen seines Einkaufs) herbeigeeilte Nachbar. Er erlaubte mir, die Getränke zu öffnen. Unter Durst musste ich nicht weiter leiden. Gejammert habe ich trotzdem – vor allem darüber, ausgerechnet verschwitzt im kalten Lift zu sitzen. Auf Anraten des Nachbars machte ich Kniebeugen – quasi als Aufwärmprogramm für die bevorstehende Rettung. Denn anders als gedacht wurde nicht der alte Lift wieder zum Fahren gebracht, sondern ich zum Springen gezwungen. Nachdem ich auch den letzten Einkaufssack ausgeräumt hatte, hüpfte ich hoch und wurde durch eine schmale Öffnung aus dem Lift gezogen.

Die restlichen zweieinhalb Stockwerke ging ich dann übrigens zu Fuß. Meine Freunde nennen die ganze Aktion netterweise „die Strafe für die Bequemlichkeit“ – und das nach 18 Kilometern.

E-Mails an: julia.neuhauser@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.01.2016)

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