Nördliche Entschleunigung

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Eigentlich sollte ich mich ja längst daran gewöhnt haben, damals schon.

Doch nein. Selbst drei Jahre bester Schulung haben – meiner Beharrlichkeit sei Dank – zwar einen bleibenden Eindruck hinterlassen, nicht aber im Sinne der Anpassung. Eher im Gegenteil. Da stellt sich, andererseits, schon die Frage: Kann man es überhaupt lernen, das Geduldig-Sein?

Unlängst kehrte ich also in meine alte Heimat Brüssel zurück – und wurde zuerst positiv überrascht: Der aufgegebene Koffer kam fast zeitgleich wie sein Besitzer am Gepäckband an. Nicht wie früher, als man die Wartezeit noch mit einem gut eingeschenkten Glas Weißwein an der Flughafenbar überbrücken konnte. Letztere befindet sich zu besagtem Gepäckband übrigens in etwa vier Kilometern Distanz, deren gemächliche Zurücklegung zwischen Landung und Koffer-in-Empfang-Nehmen auch nach dem Barbesuch noch locker drin war. Das ist vorbei: War's das jetzt mit der belgischen Gemütlichkeit? Der Besuch beim Fleischhauer belehrt mich eines Besseren. Vier Kunden warten in der Schlange, und sie warten schon sehr lang (jedenfalls noch länger als ich), doch hinter der Vitrine wird jetzt über das gestrige Fußballmatch des RSC Anderlecht diskutiert. Gegen wen die Mannschaft gespielt hat, bekomme ich nicht mehr mit, denn da läutet an der Kassa das Telefon. Ein Fleischer widmet sich jetzt dem Anrufer, während der andere für längere Zeit im Kühlraum verschwindet. Zugegeben: eine kluge Taktik. Durch das lange Betrachten der dargebotenen Steaks, Spareribs und Pasteten kaufe ich weitere 25 Minuten später mehr ein, als eigentlich geplant war. Bewunderung gebührt jedem, der sich in derlei Situationen nicht aus der Ruhe bringen lässt – also fast allen Belgiern.

Wer nach etwas Entschleunigung sucht, sollte daher unbedingt eine Reise in die europäische Hauptstadt planen – vielleicht haben Sie bei der Bewältigung Ihrer Ungeduld ja mehr Glück als ich.

E-Mails an: anna.gabriel@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.02.2016)

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