Gerechtigkeit für Belgien

BELGIUM-ATTACKS
BELGIUM-ATTACKS(c) APA/AFP/BELGA/AURORE BELOT (AURORE BELOT)
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Als ich mich im Juni 2010 mit dem Brüsseler Intellektuellen Geert van Istendael zum Gespräch zusammensetzte, blickte ganz Europa besorgt auf Belgien.

Bei den Parlamentswahlen zeichnete sich ein großer Erfolg der flämischen Nationalisten ab. Stand nach 180 Jahren tatsächlich die Auflösung Belgiens bevor? „Jeder Staat in Europa löst sich auf – nur wir Belgier wissen es“, antwortete er. „Patriotismus haben wir nicht. Das ist sehr gut. Zweitens wissen wir, dass es auf der anderen Seite des Tisches einen ganz anderen gibt, der eine andere Sprache spricht und einer anderen Kultur angehört. Drittens gibt es eine gemeinsame belgische Kultur. Die Belgier sind nicht Franzosen und nicht Holländer und nicht Deutsche. Wenn man alles eindeutig haben will, klar und geradlinig, wird man Belgien nie verstehen.“

Sechs Jahre später ist Belgien erneut Hauptthema der Weltnachrichten, und dieses Mal aus wirklich schlimmem Grund. Das Problemviertel Molenbeek, aus dem ein Großteil der Terroristenzelle stammt, die die Massenmorde in Paris und Brüssel verübt hat, ist bloß einen fünfminütigen Spaziergang vom internationalen Literaturhaus Passa Porta entfernt, wo Van Istendael mich seinerzeit empfangen hat. Die Inkompetenz der belgischen Behörden wird gescholten; ausgesucht geringschätzig spricht man über die Belgier dieser Tage in den USA, also dort, wo man es stets besonders eindeutig, klar und geradlinig haben möchte. Mich macht die Belgien-Schelte traurig, und das sage ich eingedenk des Ärgers, den ich während meiner Brüsseler Jahre mit den dortigen Bürokraten oft hatte. Natürlich müssen sich Europas Geheimdienste besser absprechen, müssen Belgiens Polizisten entschlossener auf mutmaßliche Gewalttäter zugreifen. Wenn mich die Nachrichtenlage der jüngsten Tage nicht täuscht, geschieht das bereits.

Doch was genau wünschen sich die Belgien-Schmäher anstelle des Fleckerlteppichs? Einen totalitären Polizeistaat? Es scheint, dass jene Stimmen, die sonst stets gegen die angebliche Zentralmacht Brüssels zetern, sich nun genau so einen Leviathan wünschen: geradezu belgisch paradox, dieses widersprüchliche Denken!

E-Mails an: oliver.grimm@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.03.2016)

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