Vom journalistischen Um-die-Ecke-Denken

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US-VOTE-REPUBLICANS-TRUMPAPA/AFP/EDUARDO MUNOZ ALVAREZ
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Heute ein bisschen Selbstbezichtigung.

Wenn Sie im Internet nachschauen, finden Sie einen Leitartikel vom 2. August vorigen Jahres, in welchem ich behaupte, Donald Trump werde gewiss nicht die Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten der Republikanischen Partei erringen, weil er keine substanziellen politischen Vorhaben präsentiert und Frauen, Mexikaner, Muslime, Behinderte und weiß Gott wen noch beleidigt.

Diese Vermutung ist heute hinfällig, ich lag falsch, und dafür kann ich eine hoffentlich überzeugende Erklärung anbieten. Als Zeitungsjournalist reicht es heute nicht mehr, bloß den Status quo zu beschreiben. Damit wir Sie davon überzeugen können, die „Presse“ zu kaufen, müssen wir stets zu antizipieren versuchen, in welche Richtung sich die Dinge entwickeln. Vom ersten Tag in der Redaktion werden wir darauf getrimmt, um die Ecke zu denken. In der Berichterstattung über politische Prozesse führt das im Zusammenspiel mit der rasant expandierenden digitalen Vermessung der öffentlichen Meinung dazu, dass auch wir Journalisten dem spekulativen Morgen bisweilen zu viel Gewicht gegenüber dem bestätigten Heute verleihen. Auf Trump bezogen lag mein Fehler weniger darin, seine Qualitäten unterschätzt als jene seiner Konkurrenten überschätzt zu haben. So extrapoliert man aus dem Jetzt in eine Zukunft, gestützt von algorithmischen Zauberformeln, die vor allem in den USA die Politikberichterstattung in die Nähe der Alchemie rücken. Doch hinter jedem Datenpunkt steht ein höchstpersönliches Bewusstsein, wie Walter Kirn im „Harper's Magazine“ zu bedenken gibt (auf Twitter finden Sie bei mir unter @grimmse den Link). Und wenn aus dem Vorausdenken „Prostalgie“ wird, wie Kirn schreibt, also eine Versessenheit auf Umfragen und Prognosen, biegt man in Holzwege ab.

Es gibt keine Garantie dafür, dass wir Journalisten uns künftig nicht mehr vergaloppieren. Es gibt aber sehr wohl ein Versprechen, dass wir unsere Gäule so streng im Zaum halten, wie es das Zeitgeschehen erlaubt.

E-Mails an: oliver.grimm@diepresse.com

(Print-Ausgabe, 24.05.2016)

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