Geschichte ist nicht fair

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Als Kind habe ich oft davon geträumt, ein fliegendes Auto zu besitzen.

Mit dem würde ich ausbüchsen und über den Eisernen Vorhang fliegen können, auf dessen falscher Seite ich mich befand, stellte ich mir vor. Vielleicht würde ich es sogar bis nach Finnland schaffen, in die Heimat der von der Kinderbuchautorin Tove Jansson erdachten Mumins, die für mich damals – neben „Krieg der Sterne“ – den absoluten Höhepunkt der westlichen Zivilisation darstellten. Seither sind einige Jahrzehnte vergangen, und vergangene Woche habe ich tatsächlich ein fliegendes Auto gesehen. Und zwar ein slowakisches. Es heißt Aeromobil, steht in der Eingangshalle des Brüsseler Ratsgebäudes Justus Lipsius und ist Teil einer von der Regierung in Bratislava organisierten Ausstellung, in der die Wunderwerke des slowakischen Erfindungsgeistes präsentiert werden.

Die Slowakei hat am 1. Juli für sechs Monate den EU-Vorsitz übernommen. Jedes Vorsitzland versucht gemeinhin, sich ins bestmögliche Licht zu rücken, die Faustregel in dem Zusammenhang lautet: je größer das Land, desto mehr Understatement. Nachdem die Slowakei nicht zu den großen Mitgliedstaaten zählt, ist die Versuchung umso größer, möglichst dick aufzutragen. Hinzu kommt die Vergangenheit als unfreiwilliger Satellit der Sowjetunion, die man mit Verweisen auf eigene zivilisatorische Leistungen zu überspielen versucht. Ich kenne dieses Muster aus meiner alten Heimat Polen sehr gut, wo derartige Minderwertigkeitskomplexe gegenüber dem goldenen Westen ebenso weitverbreitet sind wie der Glaube, Franzosen, Briten oder Amerikaner würden einen ernst nehmen, wenn sie erst einmal wüssten, wie toll Polen früher gewesen ist.

Ich halte diese Sicht für verfehlt. Vergangenheit und Gegenwart sind keine Fixbeträge, die man gegeneinander aufrechnen kann. Dass die Geschichte nicht fair ist, müssten die Osteuropäer mit ihrer traumatischen Erfahrung des 20. Jahrhunderts eigentlich am besten wissen. Sich über die Vergangenheit als Opfer zu definieren, führt nirgendwohin. Viel besser ist es, an die Zukunft zu glauben. Und ein Aeromobil zu erfinden.

E-Mails an: michael.laczynski@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.07.2016)

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