Washingtons National Mall, eine vergebene Chance

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Wenn Washington, wie manche sagen, das neue Rom ist: Wieso hat es dann kein Forum?

Am 15. Oktober wird es ein halbes Jahrhundert her sein, dass die National Mall Teil des National Park Service und somit gewissermaßen Teil des architektonischen Kronschatzes der Vereinigten Staaten wurde. Dieses rund drei Kilometer lange, aus Rasenflächen und Baumreihen bestehende Gelände zwischen dem Lincoln Memorial im Westen und Capitol Hill im Osten böte sich dafür an, einen Ort zwangloser öffentlicher Begegnung, des Flanierens und der Erholung der Bürger zu schaffen.

Mehrere U-Bahn- und Buslinien machen die Anreise einfach. Großartige Museen und eindrucksvolle Denkmäler säumen die Mall. Man kann an einem Vormittag – völlig gratis – die Pflanzenpracht im Botanischen Garten bestaunen, Claude Monets Juwel „Madame Monet und ihr Sohn“ in der National Gallery of Art bewundern und sich im kühlen Schatten zu Füßen Abraham Lincolns mit der Frage beschäftigen, was aus der in sein Denkmal gemeißelten „Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk“ geworden ist.

Doch leider ist die Mall kein Forum der Bürger, sondern eine seelenlose Einöde. Das Spiel oder Picknick auf den Rasenflächen ist monatelang verboten, weil die Halme gepflegt werden müssen, und in den Sommermonaten macht die bestialische Hitze das Verweilen auf dem schattenlosen Gras ohnehin spätestens ab neun Uhr morgens unerträglich. Möchte man sich nach anstrengender Besichtigung laben, gibt es kein einziges Café oder Bistro, sondern bloß jenseitiges Styroporessen aus rollenden Würstelbuden und einer Handvoll von „Kiosken“ (über sie sei geschwiegen). Der einzig halbwegs charmante Pausenort in der Nähe ist das Café im Skulpturengarten der National Gallery of Art; darum ist es, vor allem an Wochenenden, ständig überfüllt.
Vielleicht sind diese Zustände dem rastlosen Ethos Amerikas geschuldet. Kann man diesen schaffenden Geist wirklich nicht mit ein wenig Muße vereinen?

E-Mails an: oliver.grimm@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.08.2016)

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