Wenn wir unsere Geschichte vor uns schützen müssen

Gedenktafel auf dem Höhenrücken des Parapluiebergs
Gedenktafel auf dem Höhenrücken des Parapluiebergs(c) Wolfgang Freitag
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Wir leben ja, wir wissen es längst, in einer Überwachungsgesellschaft.

Wir leben ja, wir wissen es längst, in einer Überwachungsgesellschaft. Alles, was wir in der jüngeren Vergangenheit über NSA und CIA und FSB und MI5 und MI6, und was es sonst noch an klandestinen Kürzeln gibt, erfahren konnten, deutet darauf hin, dass wir allenthalben Gegenstand allseitiger Offenlegung sind (falls wir den Job via Facebook, Snapchat, Instagram, WhatsApp und Co. nicht ohnehin gleich selbst erledigen). Keine U-Bahn, kein Bankomat, kein öffentliches Gebäude ohne Überwachungskamera, und weil wir, wo wir doch selbst so streng kontrolliert werden, auch gern wüssten, was die jeweils anderen so treiben, kontrollieren wir die Wege unserer Kinder via Mobiltelefon oder womöglich das Surfverhalten erwachsener Lebenspartner über jene charmanten Softwarelösungen, die der Überwachungsmarkt uns für den Fall des Überwachungsfalles bietet.

Dennoch, dann und wann ist wohl noch der kontrollierteste Kontrolleur verblüfft, wann und wo überall Kontrolle geboten scheint. Etwa an einem Baum mitten im Wienerwald. Und das zudem, kaum ist es zu glauben, aus gutem Grund.

Wer würde schon erwarten, was auf dem milden Höhenrücken zwischen Parapluieberg und Höllenstein, unweit des Gasthofs Seewiese, auf dem Stamm einer Föhre zu lesen ist? „Achtung! Videoüberwachung“, behauptet da eine Tafel, und wer das für einen Scherz hält, versteht ein paar Schritte weiter, warum es keiner ist: Dort nämlich findet sich, auf großem Stein, eine Gedenktafel für den Februarkämpfer Richard Lehmann angebracht, erschossen im Juli 1934 bei einer Kundgebung der zu diesem Zeitpunkt schon verbotenen Sozialdemokraten auf der nahen Predigerstuhlwiese. Und das Glas, das diese Tafel deckt, liegt, mit großer Wucht zerschlagen, zersplittert da, als sei der Kampf, um den es vor mehr als 80 Jahren ging, noch immer nicht vorbei.

Was erzählt es über uns, wenn wir unsere Vergangenheit mit Kameras vor uns selbst schützen müssen?

E-Mails an: wolfgang.freitag@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.08.2016)

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