Aus dieser Tasse wird niemand mehr trinken

Tasse
Tasse(c) Die Presse - Clemens Fabry
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Selbst wer alles aufhebt, muss sich manchmal von Dingen trennen.

Selbst wer alles aufhebt, muss sich manchmal von Dingen trennen. Ein paar Mal schon ist die Tasse noch im letzten Moment von der Schippe gesprungen, aber diesmal muss sie dran glauben. Der Henkel ist bereits mehrfach geklebt, der Rand ist abgesplittert, sie steht nur noch im Kasten, weil sie das Einstandsgeschenk für den ersten eigenen Haushalt war, damals, zu Studienbeginn in Wien. Ein Erinnerungsstück.

„Tame birds have longings“, steht drauf, und inmitten lustiger kleiner Vögel: „Wild birds fly“. Hundertmal diesen Satz gelesen, bei endlosen Tassen Tee, vor sich das Linguistik-Skriptum, das einen abwechselnd in den Schlaf oder in die Verzweiflung kippen ließ. Dann wurden Vorsätze gefasst: In Zukunft wirklich alle Vorlesungen zu besuchen, auch die um 8 Uhr Früh. Die Mitschriften so zu verwalten, dass sie im richtigen Moment zu finden sind, alle Kopien sofort zu beschriften, nicht den letzten Termin für das Referat auszusuchen, weil es nichts besser, sondern alles noch viel schlimmer macht, man hat ja nie genug Zeit, egal, wann Deadline ist. Daran hat sich bis heute nichts geändert.

Aus dieser Tasse wird niemand mehr trinken, zu mitgenommen sieht sie aus. Warum etwas aufheben, das keinen Nutzen mehr hat, außer den der Erinnerung, die nicht mehr allen Fakten standhält? Vielleicht steckt dahinter die Sorge, einen Teil von der zu vergessen, die man einmal war. Manches geht unbewusst verloren, vieles davon zum Glück, man will ja auch nicht stillstehen.

Einiges hat sich seither an den Rahmenbedingungen für Studierende geändert. Sie pilgern nicht mehr in die Rahlgasse, um ihren Freifahrtschein abzuholen. Wohnen ist teuer geworden. Sie entscheiden sich für Studienrichtungen, von denen es heißt, dass sie eine Zukunft haben. Weil sie müssen. Wie unbeschwert vieles war, daran sollte man sich manchmal erinnern, wenn wir heute schon den Volksschülern einen Stress machen, den wir selbst nie hatten. Dafür braucht es auch gar keine alte, abgeschlagene Tasse.

E-Mails an: friederike.leibl-buerger@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.10.2016)

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