Enträtselt: Was in Wiener U-Bahn-Stationen wächst

Kristallzauber? U1-Station Kaisermühlen.
Kristallzauber? U1-Station Kaisermühlen.(c) Freitag
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Es sind ja nicht immer die großen Dinge, die uns besonders nachhaltig beschäftigen, vielfach sind es die kleinen.

So wie uns die Banalitäten des Alltags oft sehr viel unmittelbarer plagen als die Krisen der Welt. Alltäglichem abzuhelfen muss freilich nicht von vornherein einfacher sein, als Probleme planetarer Dimension wenigstens theoretisch zu lösen; und während, sagen wir, ziemlich viele Konzepte dafür gehandelt werden, wie das Fortkommen der Menschheit auf längere Sicht zu sichern sei, kann mir bis zum heutigen Tag noch niemand schlüssig erklären, wieso sich das Schuhband eines bestimmten linken meiner Schuhe wieder und wieder löst, wohingegen das des dazugehörigen rechten stets unversehrt bleibt.

In die Schuhbandkategorie ressortiert dem Augenschein nach auch jenes Phänomen, das ich seit Jahren in offenen Stationen der U1 beobachte. Deren Fenster zeigen dann und wann und da und dort einen wundersam-weißlichen Belag, als würden an manchen Scheiben geheimnisvolle Kristalle wachsen. Was so weit gehen kann, dass die Sicht durch diese Fenster vollständig verloren geht – bis, ja bis eines Tages der mysteriöse Zauber ebenso mysteriös, wie er gekommen, wieder verschwunden ist. Als hätte ihn eine mildtätige Fee hinweggeblasen.

Eine Nachfrage bei den Wiener Linien brachte weniger Fabulöses zutage: Die Fenster der betroffenen Stationen bestünden aus zwei Scheiben, zwischen denen eine Folie eingelagert sei, die sich ihrerseits hinwiederum zu verformen neige – zu den von mir beschriebenen Gebilden. Kurz: Von Kristallen und ihrem Zauber keine Spur. Und folglich keine Spur von einer Fee: Um sich des Schadens zu entledigen, sei einfach der betroffene Scheibensatz zu tauschen. Was im Übrigen regelmäßig geschehe. Wieder ein kleines Geheimnis des Alltags, das sein Geheimnis verloren hat. Zurück bleibt bloß bescheidene Alltäglichkeit. Poesie, wir wissen es, sieht anders aus.

E-Mails an: wolfgang.freitag@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.12.2016)

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