Gedeckter Tisch

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„Warum bist du nicht auf?“, lärmt die Mama morgens ins Telefon.

Mirakulös. Eben erst habe ich abgehoben, das Handy ans Ohr manövriert, aber kein einziges Wort gesagt, ja, noch nicht einmal geatmet, und sie weiß schon über alles Bescheid. Die unsichtbaren Antennen auf den Köpfen der Mütter zur Erkennung des Standortes und des allgemeinen Gemütszustandes ihrer Kinder müssen gigantisch sein, denn zwischen der Mama und mir liegt immerhin ganz Österreich. Anders gesagt: Von Bregenz aus scheint Muttern einen guten Überblick über die Lage in Wien zu haben, da brauch' ich erst gar nicht lange herumzuerzählen, dass ich noch faul in der Ecke liege, all diese Informationen hat sie schon.

Was die Antennen den Müttern offenbar nicht weiterleiten, ist der Menüplan. Die wichtigste Frage nach der Befindlichkeit ist nämlich „Was hast du gegessen?“, und wenn ich sonntags mit sechs Tanten telefoniere, muss ich auch sechs Mal in aller Korrektheit diese Frage beantworten. Denn „Nudeln“ oder „Fisch“ sind als Antwort nicht gültig, da muss man den gedeckten Tisch in seiner Gesamtheit, in seiner ureigenen Poesie wiedergeben. Die Tanten selbst sind mit dem Essensdiskurs schon im nächst höheren Level: Sie schicken einander fast täglich Bilder von der Mittagsspeise.

Ich kann die Tanten verstehen. Sie wohnen in verschiedenen Städten, in verschiedenen Ländern, sie sehen einander monatelang nicht. Man vermisst die Zeiten, als noch alle gemeinsam die Küche bevölkerten, man vermisst die Gespräche, die Butter und den Käse, von der Großmutter selbst hergestellt. „Was hast du gegessen?“ übers Telefon gefragt heißt auch: „Ich wäre gern mit dir am Tisch gesessen.“

Das hält uns Kinder freilich nicht davon ab, unsere Mütter und Tanten zu parodieren. Auf die Frage, wer was gegessen hat, schickt der Erste ein Bild von seinem zerfressenen Big Mac, der Zweite eine Momentaufnahme vom Dönerstand, nachts um drei. Es folgen zusammengeknülltes Schokopapier und die leeren Flaschen von der letzten Party.
Gut, dass die Antennen nicht alles verraten.

E-Mails an: duygu.oezkan@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.01.2017)

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