Die Simmeringer Schule der Diplomatie

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"Als ich Diplomat wurde, war das erste, was ich lernen musste, den Mund zu halten – in vielen Sprachen."

Mit diesem Satz charakterisierte die frühere israelische Premierministerin Golda Meir genau jenes Bild, das unsereins üblicherweise von Diplomatie hat. Jene Kunst, konstruktiv aneinander vorbeizureden. Oder aber auch, jemandem in so netter und charmanter Weise zu sagen, dass er zur Hölle fahren soll, dass dieser sich sogar auf die Reise freut. Kurz, es geht um die Fähigkeit, so zu tun, als täte man nicht so.

Die Aussagen des türkischen Botschafters Kadri Ecvet Tezcan von vergangener Woche heben sich ein wenig von dieser Maxime ab. Und sind vielleicht die Vorstufe für einen Paradigmenwechsel der angewandten Diplomatie, an deren Ende ein neuer Typus entsteht: Der Rüpel-Diplomat. Wer weiß, vielleicht begegnen wir schon bald in den Botschaftsvierteln dem einen oder anderen Konsul, der ohne Blick zur Seite bei Rot über die Ampeln geht – vor den fassungslosen Augen schockierter kleiner Kinder. Einen Botschafter, der die Reste seiner selbst gedrehten Zigaretten achtlos zu Boden schnippt und erleichtert daneben auf den Gehsteig rotzt. Bei Empfängen schneuzt er sich ins Tischtuch, spricht mit vollem Mund und legt am Ende des Banketts den Kopf schwungvoll zurück, um auch an den letzten Tropfen aus der Schwechater-Dose zu gelangen. Und das Rülpsen danach ist längst Teil der diplomatischen Amtssprache geworden.

Sollten Sie einem dieser Neo-Botschafter begegnen, empfiehlt es sich, ihn lieber nicht von der Seite anzureden. Denn womöglich ist er ein Absolvent der Simmeringer Schule der Diplomatie. Eine Denkrichtung, die vor allem durch einen oft gehörten Satz in der Lokalszene des elften Bezirks zu Berühmtheit gelangte: „Gemma auße! Regeln wir das diplomatisch!“

E-Mails an: erich.kocina@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.11.2010)

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