Alice Schwarzer hat den Vampir gebissen

(c) Dapd (Timur Emek)
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Bekanntlich gibt es einen Unterschied zwischen sozial erwünschtem und tatsächlichem Verhalten.

Bekanntlich gibt es einen Unterschied zwischen sozial erwünschtem und tatsächlichem Verhalten. Würden tatsächlich so viele Menschen ausschließlich 3sat und Arte auf ihren Fernsehern laufen lassen, wie dies bei Befragungen nach dem TV-Konsum angegeben wird, müssten die beiden Sender Quoten aufweisen, die an die Wahlergebnisse postsowjetischer Potentaten heranreichen. Die Differenz zwischen Schein und Realität bleibt hier allerdings im heimischen Fernsehzimmer verborgen, hat also keine nachhaltigen gesellschaftlichen Negativeffekte.

Problematisch wird es erst, wenn ein gesellschaftlich geächtetes Verhalten in der Öffentlichkeit geübt werden will. Dann sitzt die Angst, bei einem sozialen Fehlverhalten ertappt zu werden, bedrohlich im Nacken. Will man sich dieser Gefahr nicht durch Askese entziehen, ist Tarnen und Täuschen die Devise. Nehmen wir das fiktive Beispiel, man sei als intelligenter und anspruchsvoller Mensch einer banalen, trivialen und zutiefst kitschigen Liebesgeschichte mit Beteiligung von Vampiren verfallen – und möchte diese Leidenschaft nicht nur in der eigenen Wohnung befriedigen, sondern auch in der U-Bahn. Dann empfiehlt es sich, solange man die Geschichten noch nicht auf dem dämmerigen Display eines E-Book-Readers vor sich liegen hat, das Buchcover dezent zu verhüllen. Dafür bieten sich simple Buchschutzhüllen an, die es in verschiedensten Designs zu erstehen gibt. Highly sophisticated wird es aber erst dann, wenn das Vampirepos in das Cover eines prestigeträchtigen Buches gehüllt wird. Aber Vorsicht, liest ein Sitznachbar von der Seite mit, könnten unangenehme Assoziationen geweckt werden. Sollten Sie also „Bis(s) zum Morgengrauen“ ausgerechnet in das Cover der Biografie von Alice Schwarzer einwickeln wollen, dürfen Sie sich nicht wundern, wenn Feministinnen in der Öffentlichkeit immer so ein bissiges Image haben.

E-Mails an: erich.kocina@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.05.2012)

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