Petersburger Begegnungen

Alexander Puschkin würde das heutige Russland unter Wladimir Putin wohl recht vertraut erscheinen.

Die Russen nehmen ihren Puschkin sehr ernst. Seine letzte Wohnung am Mojka-Kanal in Sankt Petersburg darf man nur in Überziehern aus blauem Kunststoff betreten, die beim Gehen rascheln wie Butterpapier. Puschkins Werke aber kann man ohne Handschuhe lesen; man sollte es tun in diesen Tagen, in denen wieder einmal frühmorgens russische Dissidenten aus ihren Wohnungen geholt werden. „Der Eherne Reiter“, Puschkins berühmtestes Gedicht, handelt nur vordergründig vom armen Jewgenij, der seine Geliebte 1824 bei der Überschwemmung verloren hat und dem Zaren Peter zürnt, weil er so nahe am Wasser gebaut hat. Auch den Zensoren von Zar Nikolaj I. fiel auf, dass der Dichter die Niederschlagung der Dekabristen 1825 meinte, als er schrieb: „Es gab einst eine schlimme Zeit/Auf die sich viele noch besinnen.“

Die Dekabristen wollten, was viele Russen noch heute ersehnen: das Ende der Willkür. Ich habe mich, staunend durch Petersburg und seine Geschichte wandernd, oft gefragt, wer der Lieblingszar von Präsident Putin ist, der für einen früheren KGB-Agenten erstaunlich imperiale Vorlieben zeigt. Hat er denn einen? Ja, den hat er: Alexander III. Vor dem Marmorpalast steht das Reiterstandbild dieses Gewaltmenschen. Egon Erwin Kisch schrieb, dieses Denkmal gebe dem vorletzten Zaren „Gesicht und Körper eines vierschrötigen Wachtmeisters, dessen Eskadrongaul sich anschickt zu bocken“.

In der Eremitage hängt ein gutes Porträt, das Ilja Repin von Nikolaj II. gemalt hat. Der letzte Zar sieht darauf Dmitrij Medwedjew, Putins Vorgänger als Präsident und Nachfolger als Premier, wie aus dem Gesicht geschnitten aus. „Ja, das sagen hier alle“, bestätigte die Museumswärterin; sie lächelte dabei leise.

E-Mails an: oliver.grimm@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.06.2012)

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