Weihnachten am Pflegebett

Weihnachten abseits der Familie. Pflegerin Bea und Herr Leo.
Weihnachten abseits der Familie. Pflegerin Bea und Herr Leo.Clemens Fabry
  • Drucken

Frauen aus Osteuropa verlassen ihre Familien, um sich in Österreich rund um die Uhr um die Pflege anderer zu kümmern. Ein Hausbesuch bei Pflegekräften und ihren Schützlingen.

Die Gesellschaft altert rasant – Österreich investiert dafür nur zögerlich in soziale Dienstleistungen. „Ohne die rund 80.000 in Österreich gemeldeten Pflegekräfte aus Osteuropa hätten wir ein großes Problem“, sagt Margit Hermentin, die selbst ihre Großmutter gepflegt und danach die Agentur „gut betreut“ eröffnet hat. Derzeit hat sie rund 300 Pflegekräfte unter Vertrag. Sie sind selbstständig, verdienen je nach Pflegestufe mindestens 55 Euro brutto pro Tag, plus Sozialversicherungsbeitrag und Fahrtengeld ins Heimatland. Sie sind in Österreich steuerpflichtig. Pro Patient werden immer zwei Pflegekräfte eingeteilt, die sich im Zweiwochenrhythmus abwechseln.

Wer bei Hermentin anfängt, muss eine Pflegeausbildung oder Berufserfahrung haben und gute Deutschkenntnisse vorweisen. „Die Qualitätsstandards sind in den vergangenen Jahren in der Branche stark gestiegen“, sagt Hermentin. Schwarze Schafe, die unausgebildete Pflegekräfte zu Hungerlöhnen vermitteln, gebe es immer weniger. Sie selbst mache bei den von ihr vermittelten Pflegekräften regelmäßige Qualitätskontrollen und Hausbesuche. Dass Pflege auch im Osten ein klassischer Frauenberuf ist, zeigen die Zahlen: 95,73 Prozent sind weiblich. Etwa zwei Drittel aller in Österreich arbeitenden Pflegekräfte kommen aus der Slowakei und Rumänien – nämlich jeweils rund 30.000. Die meisten 24-Stunden-Pfleger gibt es in Niederösterreich (22.400).

Ein wandernder Baum

Bea Palatinusova und Leo Böckl feiern ihr erstes gemeinsames Weihnachten. Aus Wertschätzung füreinander soll das Fest diesmal ganz anders zelebriert werden.

Bea Palatinusovas Plastiktischweihnachtsbaum ist mit Erinnerungen geschmückt. Die roten Kugeln wecken Kindheitsgefühle, erinnern sie an ihren Vater, der am 24. Dezember immer das Weihnachtsritual geleitet hat und mit einem silbernen Tablett, auf dem Oblaten, Honig, Walnüsse, Äpfel und Knoblauch gelegen sind, den Raum betreten hat.

Der Honig stand für Reichtum und der Knoblauch für Gesundheit. Beides wurde auf die Oblaten gestrichen und dann gegessen. Dann reichte er jedem eine Nuss. Sie wurde geknackt, die Einzelteile wurden mit einem Wunsch für die anderen in die Ecken des Raums geworfen. Zum Schluss zerschnitt jeder seinen Apfel in so viele Spalten, wie Familienmitglieder am Tisch saßen. „Du sollst immer teilen, was du hast“, sagte ihr der Vater und reichte ihr eine von seinen Apfelspalten und sie ihm eine der ihren. Während dieses Brauchs war um die Tischbeine ein Seil gefädelt – symbolische Fesseln. Niemand von der Familie soll weggehen, niemand sterben, man soll immer zusammenhalten, zusammenbleiben.

Bea Palatinusova und Leo Böckl
Bea Palatinusova und Leo Böckl Clemens Fabry / Die Presse

Stille Nacht, einsame Nacht. Die kleinen Glocken auf dem Baum erinnern sie daran, wie sie später für ihren Sohn das Fest ausgerichtet und geklingelt hat, wenn das Christkind gekommen ist. Sie weiß noch genau, wie sie ihn diesen alten slowakischen Weihnachtsbrauch gelehrt hat – so wie ihr Vater einst sie. Aber sie erinnert sich auch daran, dass sie das symbolische Seil um den Tisch doch irgendwann gelöst hat – und ihr einziges Kind künftig ohne sie am Tisch den Brauch von Familie und Zusammenhalt feiern sollte. Elf Jahre ist das mittlerweile her.

Die vielen stillen Heiligen Nächte seither verbrachte sie oft einsam, weinte sich in den Schlaf. Nur der Plastikbaum erinnerte sie an früher. Mehr Weihnachtliches hatte sie nicht. Es gab keine Familie, keine Geschenke, keine Kekse, keinen gebackenen Fisch, niemanden, mit dem sie Äpfel, Nüsse und Oblaten hätte teilen können – oft nicht einmal jemanden, der mit ihr sprach. Entweder, weil jene, die um sie waren, dazu nicht mehr in der Lage waren – oder aus Arroganz, weil man sie als Mensch zweiter Klasse betrachtete.

Bea ist eine von rund 80.000 in Österreich gemeldeten 24-Stunden-Pflegern und Pflegerinnen aus dem Osten, die sich in österreichischen Haushalten um die Alten und Kranken kümmern. Pflege kennt keine Feiertage. Und wenn dann einer ihrer Schützlinge verstarb, packte sie ihre Sachen und den kleinen Baum, um sich um den nächsten hilfsbedürftigen Menschen zu kümmern.

Neue Freundschaften. Dieses Jahr steht der Baum in der Leopoldstädter Wohnung von Leopold Böckl (86) und wartet darauf, mit neuen, schönen Erinnerungen dekoriert zu werden. Bea und Herr Leo, wie sie ihn nennt, feiern dieses Jahr das erste Mal zusammen, die 55-Jährige lebt seit Juli bei ihm. Man müsse sich erst daran gewöhnen, sagt Leo. Langsam sei sein Leben, seit er einen Schlaganfall im Frühjahr hatte. Langsam denken, langsam sprechen, jeder Handgriff braucht Zeit, jede Bewegung will genau geplant sein – seine geliebten Spaziergänge dauern nun viel länger, die Strecke, die er dabei zurücklegt, ist allerdings nur mehr ein Bruchteil von dem, was er früher marschiert ist. Das zu akzeptieren brauchte ebenso lang, wie Bea als neue Frau im Haus zu haben.Nun keimt eine zarte Pflanze der Freundschaft zwischen den beiden Mitbewohnern, die eigentlich sehr viel gemeinsam haben. Auch Herr Leo weiß, wie es ist, nicht im Heimatland zu leben, seine Familie zurückzulassen. Bis vor Kurzem lebte er in den USA, war ein bekannter Architekt. Er baute in Washington die österreichische Botschaft sowie die Sheratons und Hiltons dieser Welt. Nach dem Schlaganfall ging er zurück nach Österreich – das Gesundheitssystem in den USA sei nicht das beste. Seine erwachsenen Kinder haben dort ihr Leben.

Bea war im Theater in Bratislava tätig, bis sie nach einer schweren Krankheit ihren Job verlor. Sie fand keine neue Arbeitsstelle und ging vor elf Jahren als Pflegerin nach Österreich. Ihr Sohn blieb bei seinen Großeltern. Beide lieben die schönen Künste, die Kultur, darüber unterhalten sie sich gern. „Sie ist eine ganz Gescheite“, sagt Herr Leo anerkennend. Dieses Jahr freut sich Bea wieder einmal auf Weihnachten, weil sie nun bei jemandem ist, den sie mag. Und Leo tut ihr den Gefallen und tut so, als ob er Interesse an dem Fest hätte. „Ich mag Weihnachten eigentlich nicht“, sagt Herr Leo. Zu viele Menschen, zu viel Konsum, zu viel von allem. Dennoch ging er im Advent mit Bea auf den Weihnachtsmarkt auf dem Stephansplatz. Er selbst habe keine Weihnachtsrituale, sagt er. „Wir machen unsere eigenen, neuen Traditionen“, sagt Bea, die seit Wochen das Weihnachtsmenü plant, umwirft und wieder neu plant.

Ursprünglich gab es bei Beas Familie immer gebackenen Karpfen zum Abendessen. Leo mag keinen Karpfen – sie haben sich auf Lachsfilet als Kompromiss geeinigt. Für ihn mit Bratkartoffeln und Karfiol mit Butter als Beilage. Und für sie, wie damals zu Hause mit Erdäpfelmayonnaisesalat. Der kleine Baum wird dabei auf dem Tisch stehen und die beiden ewig an dieses erste gemeinsame Weihnachten erinnern.

Heilige Nacht bei Adoptivgroßeltern

Michal Matefy feiert nicht zu Hause, weil er in Österreich gebraucht wird. Seinem Sohn will er zeigen, wie wichtig Nächstenliebe ist.

Michal Matefys Sohn hat auch dieses Jahr wieder nur einen Weihnachtswunsch: dass sein Vater dieses Mal mit ihm und seiner Mutter feiert. Wie die Jahre zuvor wird es am 24. Dezember einen geschmückten, großen Tannenbaum geben, unter dem Geschenke liegen. Die Mutter des Elfjährigen wird die traditionelle Steinpilzsuppe und einen Karpfen zubereiten, und danach ihre Spezialität, eine süße Nachspeise mit Milch, Honig und Mohn servieren. Sie wollen vor der Bescherung wieder Lieder singen. Aber Michal wird seinem Sohn auch dieses Jahr dessen größten Wunsch nicht erfüllen – denn der 37-jährige Slowake wird in einem österreichischen Haushalt gebraucht, so wie auch in den vergangenen fünf Jahre, seitdem er als eine der wenigen männlichen 24-Stunden-Pflegekräfte in Österreich zu arbeiten begonnen hat.

„Ich sage meinem Buben immer: ,Es gibt Menschen, die brauchen meine Hilfe ganz dringend, ich muss für sie auch da sein, bitte versteh das“, sagt Michal. „Ich versuche, ihm beizubringen, was Nächstenliebe ist und warum es wichtig ist, Schwächeren zu helfen.“ Manchmal komme die Botschaft bei ihm an, dann sei er wieder wütend, traurig, habe Sehnsucht. Michal kennt dieses Wechselbad der Gefühle, denn sein Job verlangt von ihm große Opfer: Verzicht auf die Familie und Freunde – auf Freizeit generell. Seine Arbeit ist manchmal körperlich wie psychisch sehr auslaugend.

Michal Matefy (rechts) bei Familie Storkan
Michal Matefy (rechts) bei Familie Storkan Clemens Fabry / Die Presse

Die neue Familie. „Ich mache meinen Job gern, weil man viel zurückbekommt, und wenn es gut passt, sogar eine Art Ersatzfamilie“, sagt er. Aber dennoch sei es schwer, wenn man so auf sich allein gestellt ist. Seine neue österreichische Familie heißt Maria und Franz Storkan. Die ehemalige Verkäuferin und der Landmaschinenbaumeister leben in einem kleinen Ort im niederösterreichischen Nirgendwo nahe Tulln. Michal nennt die beiden liebevoll Oma und Opa – außer ihnen hat er im Ort kaum Bekannte. Franz Storkan ist 76 Jahre alt und kämpft gegen das Vergessen, aber die Demenz schreitet zügig voran. Dazu kommen körperliche Probleme, die immer wieder Krankenhausaufenthalte nötig machen. Bis vor ziemlich genau einem Jahr machte die 76-jährige Maria noch den Haushalt und kümmerte sich um ihren dementen Mann. Am 23. Dezember 2015 erlitt sie einen Schlaganfall. Seitdem ist sie halbseitig gelähmt und auf den Rollstuhl angewiesen. Nach unterschiedlichen Varianten der Betreuung entschied sich die Familie für eine 24-Stunden-Pflege. Über die Agentur „gut betreut“ wurden ihnen Michal und Emil vermittelt, die nun abwechselnd für jeweils zwei Wochen im ersten Stock einziehen. Agenturchefin Margit Hermentin wählte deswegen zwei Männer, weil der Job bei den Storkans auch körperlich sehr anspruchsvoll ist. Für die Morgenhygiene muss Maria Storkan aus dem Rollstuhl gehoben werden, nach dem Anziehen wieder hinein. Am Nachmittag trainiert sie auf einem Fahrrad und macht Gymnastikübungen, damit die gelähmten Muskeln nicht erschlaffen – dabei braucht sie Hilfe. Dazu waschen, putzen und kochen die Pfleger – gehen einkaufen oder machen mit Franz seinen täglichen Spaziergang. Er schafft ihn allein nicht mehr, weil ihm der Nachhauseweg immer wieder entfällt. Auch in der Nacht sind die Pflegekräfte allzeit bereit. Michal schläft mit einem Babyfon neben dem Bett, falls er in den Schlafzimmern im Erdgeschoß gebraucht wird, weil jemand Durst bekommt, der Katheter gewechselt werden muss oder aus dem Bett fällt.Auch für die Storkans ist es manchmal anstrengend, Michal hier zu haben – immerhin dringt jemand in ihre Intimsphäre vor. „Aber es ist notwendig, und wir verstehen uns sehr gut. Er ist ein lieber“, sagt Maria Storkan. Weihnachten soll dieses Jahr besinnlich werden. Am Heiligen Abend haben sich „Oma“ und „Opa“ Schnitzel gewünscht – am 25. Dezember kommt dann der Rest der Familie: drei Kinder und acht Enkelkinder. Dann hat Michal eine kurze Verschnaufpause und kann sich zurückziehen, um mit seiner Familie zu feiern – via Videotelefonie.

Wie Renata ihren Weihnachtsengel traf

Renata Bauerova und Elisabeth Trauner sind mehr als Pflegerin und Gepflegte. Sie haben innige Freundschaft geschlossen.

„Sie ist mein Engel“, sagt Renata Bauerova über Elisabeth Trauner und umarmt die 96-jährige schlanke Frau, die davon sichtlich gerührt ist. Die 53-Jährige weiß, warum sie so viele warme Worte für ihren Schützling ausspricht, denn nicht alle, die sie bisher betreute, waren so pflegeleicht, freundlich und dankbar wie Frau Trauner. „Ich hatte auch schon Pflegefälle, die haben nicht mit mir geredet. Nie. Und zwar nicht, weil sie nicht konnten, sondern, weil sie es nicht als notwendig empfunden haben“, erzählt Renata aus ihrer zehnjährigen Berufserfahrung als Pflegerin in Österreich. Auch was die Weihnachtszeit betrifft, hat sie alles andere als nur schöne Erinnerungen: „Bei uns in der Slowakei, da gibt es immer ein gutes Essen: Fischsuppe und gebackenen Fisch“, sagt sie – und dann gab es bei Renatas Familie auch immer den Weihnachtsbrauch mit Äpfeln und Nüssen (siehe Artikel links).

Es kam der Zeitpunkt, da feierte Renata Weihnachten nur mehr selten zu Hause, weil sie in Österreich anfing, Menschen zu pflegen. Vor ein paar Jahren, da konnte ein älteres Ehepaar auf ihre Dienste nicht verzichten. Am Heiligen Abend kam dann die ganze Familie zu Besuch, sie wurde kaum gegrüßt. Renata, die ein großer Fan von Weihnachtsmusik ist, konnte ja noch verschmerzen, dass die Familie den Text von „Stille Nacht“ ebenso wenig beherrschte, wie die Töne zu treffen. Aber als dann zu Tisch gebeten wurde, bekam sie am Weihnachtsabend nichts zu essen. „Das war so traurig, ich habe dann heimlich geweint, weil ich mich so ausgeschlossen gefühlt habe“, erzählt sie der „Presse am Sonntag.“ Sie ging hungrig und einsam zu Bett.

Bei Frau Trauner wird sie so ein Weihnachten mit Sicherheit nicht erleben: Hier ist die Pflegerin am Weihnachtsabend ganz selbstverständlich bei deren Tochter eingeladen. Renata hat schon Kekse als Gastgeschenk gebacken. Diesmal wird auch nicht wie sonst immer die Pflegerin kochen – sondern es wird für sie gekocht. Ihre Familienfeier wird Renata dann doch auch noch bekommen, denn sowohl ihre Tochter als auch ihre Schwester, die auch als Pflegerin arbeitet, sind in Wien.

Zahlen

Schmäh führen. Ursprünglich war Renata Kindergartenpädagogin und hat ihre Schwester Vlasta einmal bei der Pflege im Sommer in Wien für eine Woche vertreten. „Es hat mir sehr gut gefallen, weil es mit alten Menschen eigentlich fast wie mit Kindern ist – außer dass man nur einen und nicht sehr viele zu betreuen hat“, so Renata. „Na ja, manchmal ein bisschen kindisch sein hält jung“, sagt Frau Trauner, die für ihr Alter tatsächlich sehr jung aussieht. Schmäh führen, das ist eines der vielen Dinge, die die beiden Frauen gern zusammen tun. Am liebsten gehen sie aber spazieren, kehren dann in ein Kaffeehaus ein, zum Tratschen, oder lösen zusammen Kreuzworträtsel. Am Anfang sei es gewöhnungsbedürftig gewesen, jemanden dauernd bei sich in der Wohnung im vierten Wiener Gemeindebezirk zu haben – vor allem, weil sie vorher längere Zeit allein gewohnt habe, sagt Frau Trauner. Es sei der Wunsch ihrer Kinder gewesen, nun doch eine Pflegekraft zu holen. Sie selbst hätte sich das auch noch länger zugetraut, erzählt die ehemalige medizinisch-technische Assistentin, die ihr Leben lang auf eigenen Beinen gestanden ist. „Wir verstehen uns aber Gott sei Dank sehr gut, ich habe einen guten Menschen erwischt, das ist bereichernd“, sagt Frau Trauner. Nach Weihnachten will sie mit Renata auch noch Silvester feiern.Herkunft. Die meisten Pflegekräfte stammen aus Rumänien (33.342) und der Slowakei (31.810), aus Ungarn stammen 4912. Aus Kroatien, Bulgarien und Polen kommen jeweils rund 1500 der in Österreich arbeitenden 24-Stunden-Kräfte. Der überwiegende Anteil der Pflegekräfte ist zwischen 51 und 60 Jahre alt (19.313). 123 sind älter als 70 Jahre.

Bundesländer. Die meisten 24-Stunden-Pflegekräfte arbeiten in Niederösterreich (22.412), gefolgt von der Steiermark (13.216) und Wien (12.060). Die wenigsten gibt es mit 2712 in Salzburg.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.12.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.