Hexenhaare und Hüterbuben

(c) www.bartholomaeberg.at
  • Drucken

Hoch-Wandern und Talwärts-Schauen im Montafon: Der Weg führt durch eine Landschaft wie ein Kunstwerk und erschließt die alte Almkultur der Maisäß.

Frühmorgens am Bartholomäberg. Still ist es auf 1200 Metern. Als hielte die Natur den Atem an – erstaunt über die vollendete Landschaftsmalerei, die der Nebel zögernd freigibt. Ein schlichtes Holzhaus, eine Kuh. Dahinter blickdichter Wald und unter allem tiefgrünes, samtiges Gras. Wie entrückt schreitet der Wanderer immer tiefer in die Almlandschaft hinein. Montjola, Montabello – so klangvolle Namen hat man auf der Busfahrt bergauf gelesen. Rätoromanisches im Süden Vorarlbergs.

Hier, auf dem sonnenverwöhnten Bartholomäberg, stehen die kleinen schmucken Holzhäuschen, die so typisch sind für das Maisäß, diese speziellen Almen. Früher beherbergten sie das jüngere Bauernvolk, das im späten Frühjahr mit dem Vieh vom Tal hinaufzog. Im Sommer wurden die Tiere auf die Hochalm getrieben. Und im Herbst, vor dem endgültigen Almabtrieb, machten sie hier wieder Zwischenrast. Die wie Kammzinken an der Hauswand aufgehängten „Hoanzen“ (Holzspieße zum Feststecken der Heuballen) erzählen von der Schwerarbeit am Berg. Heute werden nur mehr wenige Häuschen als Almwirtschaft genutzt – die Bauern haben sie längst als Ferienhütten ausgestattet. Und die sind so beliebt, dass es als Glücksfall gilt, eine solche Hütte zu besitzen oder mieten zu können.

Die Sonne steht nun hoch genug, wir blicken rundum: im Süden und Westen die Gipfel des Rätikons, die die Grenze zur Schweiz markieren. Im Osten beginnt das Verwallmassiv und noch weiter im Südosten, am Ende des Montafoner Tals, befinden sich Piz Buin und Silvretta-Hochalpenstraße, die sich zum Stausee hinaufwindet. Im Tal sieht man Schruns und Tschagguns, zwei liebenswerte Dörfer. Auf der anderen Bergseite steigt man hinauf zum Golm, und weiter westlich sind die Drei Türme zu erkennen, die den Talschluss des Gauertals bilden – eine tiefe Furche durch das Bergmassiv.

Geologie und Gebet

Ein wenig Zeit verhocken wir auf den Sesselliftbänken, die hier alle paar hundert Meter am Wegrand aufgestellt sind. Zum „Ruaba & Luaga“, zum Ruhen und Schauen, haben die Bartholomäer ausgedientes Bergbahninventar zu originellen Sitzmöbeln umfunktioniert. Klappe herunter – und schon wäre man, bei bester Aussicht, vor Regen und Wind geschützt.

Am Bartholomäberg wurden im Mittelalter Silber, aber auch Eisen und Kupfer abgebaut. Davon zeugt der Name Silbertal – man erwandert die kleine Gemeinde über den Innerberg auf Waldtrails wie aus dem Märchenbuch. Von Silbertal könnte man weiter über den Kristberg und den Sattel bis ins Klostertal wandern. Wer mehr über die Geschichte des Bergs, Abbau und Verhüttung seiner Schätze wissen möchte, nimmt den geologischen Lehrwanderweg und schaut in den stillgelegten St. Anna-Stollen. In der Bergkapelle St. Agatha am Kristberg und im „Bruederhüsle“ beteten die Knappen einst um Gottes Segen. Eine der schönsten Kirchen des Montafons thront am Hang: die barocke, kostbar ausgestattete Wallfahrtskirche St. Bartholomäus. Ihre Glocken hallen weit ins Tal und locken Hochzeitspaare an. Der schönste Tag im Leben wird hier in regionaler Tracht zelebriert – sehr zur Schaulust von Zaungästen.

Kunst am Wegesrand

Schauplatzwechsel zum Golm und zu den Drei Türmen: Am nächsten Tag wollen wir noch höher und weiter hinaus – die Lindauer Hütte, als wildromantisches Nachtlager gerne ausgebucht, gilt es, vom Golm kommend, zu erwandern. Der Bus bringt Wanderer zunächst zu den Latschauer Speicherseen auf 1000 Meter. Hier dürfen sich Mutige austoben – im Waldseilpark turnen, mit dem Flying Fox über den Stausee flitzen oder mit dem Alpine Coaster-Zweisitzer Richtung Vandans donnern. Wir bevorzugen die Gondel zum Gasthof Golm auf 1900 Metern.

Wie eine schmale Naht windet sich der Latschätzer Weg die Hänge entlang, ohne Anstrengung, von winzigen Blumen, Kraut und Steinen gesäumt. Gleich über der Baumgrenze ist der Ausblick grandios: Die Spitzen des Sulzfluhs blitzen auf, ferne Hochalmen und einsame Gehöfte. Das Fernrohr erspäht Steinböcke, Adler, Bergdohlen. Wanderer lächeln einem entgegen und grüßen: Servus, Hoi, Gruezi. Umgedrehte, geschälte Baumstämme mit Wurzeln wie Hexenfrisuren tauchen hinter den Biegungen auf: Skulpturen, vom Vorarlberger Künstler Roland Haas als Wegmarkierungen in die Landschaft gestellt. Am Sockel sind diese Objekte der „Gauertaler AlpkulTour“, ganz zeitgemäß, mit QR-Codes ausgestattet und versorgen die Passanten über Smartphone mit Wissen über die Maisäßkultur und -traditionen.

In einer Senke liegt dann die Alpe Latschätz. Kühe grasen, als helle Punkte über den Almboden verstreut, Hirtenbuben mit Stöcken, Schlapphüten und Lederhosen hüpfen wie vor hundert Jahren um das Braunvieh herum. Hier oben wird in der Sennerei der Montafoner Sura Kees erzeugt, ein magerer Sauermilchkäse, gesund mit wenig Fett und Cholesterin, aromatisch und mild, je älter umso würziger, sehr gut mit Essig, Öl und Zwiebeln. Schon im 12. Jahrhundert haben die Bauern Sura Kees hergestellt.

Nach einer weiteren Stunde wird die Landschaft kantiger, die Flächen werden breiter, die Wiesen steiniger. Wir schauen auf die mächtigen Zacken der Drei Türme. Auf 1744 Metern heißt es endlich einkehren in die Lindauer Hütte. Sommers wie winters wird sie bewirtschaftet, es gibt Zimmer und Matratzenlager, serviert wird herzhaftes Bergsteigeressen. Das brauchen die besonders, die nicht die gemütliche Route, sondern den steileren Golmer Höhenweg über das Joch, Latschätzkopf und Geissspitze gewählt haben. Aber auch der Abstieg durch das romantische Gauertal – zwei Stunden zügig bergab - erfordert Kraft. Am Fuß des Sulzfluhs vom Gebirgsbach begleitet, zuerst in Schleifen, einmal steiler, einmal flacher, im Waldgestrüpp oder am Wiesenrand der Maisäß-Almen. Erste Wohnhäuser tauchen auf, erste Blumengärten, und unsere Knie brauchen schon ein wenig Zuspruch, um die letzten Kurven bis zum Ausgangspunkt Latschau zu schaffen.

Schnee, Schnaps, Schruns

Nach der Talfahrt mit der Gondel sinken wir dankbar in die weichen Sitzpolster im gemütlichen Gasthaus in Tschagguns. Ein Stamperl edler Subirer (Schnaps aus Saubirnen), eine schöne Portion Kässpätzle, und wir lauschen den Dorfgeschichten des Wirts, soweit unsere Vorarlberger Mundartkenntnisse es zulassen: Vom alten Engelbert erzählt er, der als standhafter Junggeselle mit seinem Vieh am Maisäß hauste und der sich jeden Herbstbeginn beharrlich weigerte, wieder ins Tal zu ziehen. Die Bergrettung musste jedes Jahr ausrücken, um ihn zu holen, weil er da oben sonst vielleicht erfroren wäre.

Einer der berühmtesten Gäste des Montafons hat selbst Geschichte – und Geschichten – geschrieben. 90 Jahre ist es her, dass der junge Ernest Hemingway mit seiner Familie zwei lange Winter in Schruns verbrachte, Skifahren lernte und anspruchsvolle Touren bewältigte. Hemingway liebte den Schnee, die Ruhe, den Schnaps und das Bier. Am Hotel „Taube“ in Schruns erinnert allerdings nur eine kleine Messingtafel an den legendären Besucher. Das Dorf hat jeden Kult verweigert – und überließ es umgekehrt dem Schriftsteller selbst, in seinem Buch „Schnee auf dem Kilimandscharo“ vom Montafon zu schwärmen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.08.2012)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.