Mariazell: Buße mit Muße

In Mariazell treffen weltliche Wallfahrer auf geistvolle Errungenschaften: Kräuterlikör, Lebkucheneis, Wasserspiele.

(c) Steiermark Tourismus
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Es muss nicht immer Buße mit Basilika sein. Auch Muße mit Magenbitter kann befreiend auf Körper und Geist wirken. Sofern man gerade in Mariazell weilt, der Hochburg gesunder Rezepturen. Hier findet sich seit Jahrhunderten das passende Kraut gegen Mieselsucht oder Magendrücken. Allerdings werden einem diese alkoholischen Absolutionen nicht von den Kirchenvätern erteilt, sondern von Apotheker oder Arzberger. Walter Arzberger etwa stellt seinen traditionellen Magenlikör aus 33 Kräutern heute noch händisch mit Zwetschkenschnaps, Granderwasser und im Allein- beziehungsweise Geheimgang her. Das Rezept stammt von Urgroßvater Cajetan, der 1833 diesen intestinalen Zaubertrank kreierte. Mit ihm hat der „emigirierte“ Oststeirer vermutlich mehr Pilger von den Nachwehen langer Märsche erlöst, als Blasenpflaster und Bibelsprüche das je vermocht hätten.

Früher galten Wallfahrten nicht unbedingt als Allheilmittel für Körper und Geist, denn während die Seele schrittweise gesundete, verdarb meistens der Proviant. Büßen und beten nahmen die Sünden hinweg, doch faule Eier und ranzige Wurst blieben. Und schlugen den Menschen auf den Magen. Bis Cajetan mit seiner hilfreichen Flasche kam. Nachfahre Walter gewährt gern tiefe Einblicke ins ehemalige Pilgerleben, nur in den Topf schauen lässt er niemanden. Nicht einmal seine Tochter, die bereits als „Zauberlehrling“ der nächsten Generation fungiert. „Das vollständige Rezept gibt’s allein in meinem Kopf, das kennt sonst keiner“, gesteht der Mariazeller Magentrunkmagier. Mischung und Procedere werden nur mündlich überliefert. Eine bittere Wahrheit, die es auch als halb süße, süße und zuckerfreie Variante gibt. Um dem west-östlichen Geschmacksgefälle zu entsprechen, demzufolge – so Cajetan – die Ungarn auf „lieblich“ stehen, die Burgenländer auf „halbe halbe trinken“ und der Westen eindeutig die herbe Trinktur bevorzugt. Besonders kreativ schmeckt allerdings die prickelnde Likörpralinenform (in Kooperation mit Demel) mit heiterer Gebrauchsanweisung. Inzwischen sind auch Menschen auf diesen herbwürzigen Geschmack gekommen, denen beileibe nichts im Magen liegt.

Nach dem Mariazeller Motto „Ranti Putanti, ’s Leben is hanti“ macht eine leichte Bitterkeit das Dasein erst so richtig süß. Geprägt hat diesen weisen Ausspruch im Übrigen der „Brotteufel“ aus dem 19. Jahrhundert, der seinerzeit zwischen Seeberg und Mariazell das tägliche Brot austrug. Er war aber nicht mit dem Teufel im Bunde, er hieß nur so. Auch heute muss man keinen faustischen Pakt schließen, um dem g’schmackigen „Ranti Putanti“ zu verfallen. Im Gegenteil. Ein Gang in die historische Apotheke zur Gnadenmutter tut’s auch. 1718 gegründet, übertritt man mit der Schwelle des Gebäudes auch die Grenze zu einer anderen Welt. In alten Truhen, Laden und Regalen lagern derartig viele Flaschen, Tropfen und Tinkturen aus größtenteils eigener Produktion, dass man allein bei deren Anblick trunken vor Glück und Gesundheit wird. Das gilt nicht nur für die seit Jahrhunderten bewährten Magentropfen nach der Rezeptur von 1780. „Der wahre Schatz stammt vom Dachboden“, erzählt Angelika Prentner, die kräuterkundige Apothekerin. Sie hat die alten botanischen Schriften des Heilpflanzenexperten Michael Hölzl mühsam entziffert. Doch was sich liest wie eine Mischung aus Alchimie und Kabbala, entfaltet spürbare Kräfte. Das Lebenselixier belebt, der „Ranti Putanti“ berauscht. Vor allem mit einem Stück Zucker sowie Sekt oder Champagner aufgegossen, rangiert dieses Getränk bereits als kultiger „Mariazeller G’spritzer.“ Mit angenehm bitterem Nachgeschmack.

Lederhosen für die iPad-Pilger. Wer durch die Gassen im Schatten der Basilika wandelt, kann sich dem seltsamen Reiz dieser hochsteirischen Stadt nicht verschließen. Hier scheint alles außer dem Wallfahrtsbetrieb etwas kleiner, dafür aber fein geraten zu sein. Questers Mariazeller Wildsaibling schwimmt nicht mit der Masse, sondern in einem Lokal für gerade einmal 20 Gäste; Nino betreibt in seinem italienischen Café auf der „Piazza“ sogar eine eigene Rösterei, der Lederhosenmacher Lindmoser versieht auch iPads mit einem trachtigen Beinkleid und das Brauhaus gilt mit seinen zwei romantischen Gästezimmern als kleinster Viersternebetrieb Österreichs.
Johannes Girrer, begnadeter Braumeister und Wirt, verleiht heimischen Krügen herbe Akzente. Seit 1996 braut er mitten im Lokal obergärigen Hopfensaft. Immer nur zwei Sorten, das helle Zeller Gold und das dunkle, würzige Festbier. Oder auch ein „Mönch Magnus“. „Früher“, so erklärt Girrer, „galt dunkles Bier beinahe als Nahrungsmittel. Von Ärzten empfohlen, half es bei Mastkuren oder gegen Blutarmut.“ So darf man seinen Krug auch heute noch – im Sinn der Gesundheitsprävention – auf sein Wohl erheben. Mit dem urigen, verwinkelten Ambiente harmonieren die mächtigen Kupferapparaturen prächtig. „Begradigt wird hier nichts“, betont der Herr des Hauses. „Da muss sich schon der Maurer nach den schiefen Mauern richten.“ Immerhin haben diese drei Jahrhunderte mehr auf ihren Buckeln.     

Alle Wege führen angeblich nach Rom, alle Pilgerwege augenscheinlich nach Mariazell. Daher nimmt es kaum Wunder, dass die Lebkuchentradition gerade in diesem Wallfahrtsort tief verwurzelt ist. Allerdings war Lebkuchen früher nur langlebiger Pilgerproviant. Heute sollte man besser von Genussmittel sprechen. Was angesichts der Pirker’schen Kreationen auch nicht schwerfällt. 60 verschiedene Sorten dieser Bienenhonigkreationen werden hier – natürlich nach Geheimrezept – produziert und eigenhändig mit netten Sprüchen verziert. Durch den hohen Anteil von bis zu 50 Prozent Honig bleiben sie sehr lange weich. Champagnervariationen gibt es da, Kuchen für Diabetiker, Whiskytrüffelfans oder Vollkornpuritaner. Im Sommer kann man sich – mit Blick auf die Basilika – sogar an einem wohl landesweit einzigartigen Lebkucheneis versuchen. Und sollte der Wettergott es gerade nicht gut mit einem meinen, existiert in den Pirker’schen Ausstellungsräumen ein authentisches Miniatur-Mariazell aus der Backform, von Künstlerin Claudia geduldig bemalt. Hier lebt die handwerkliche Dreifaltigkeit aus Lebzelterei, Metsiederei und Wachsziehen unverändert weiter. Dem Spruch „Der Pilgerweg war lang und schwer, jetzt hab ich keine Sünden mehr“, darf man aber keinen Glauben schenken – denn auch Völlerei ist eine Sünde, um die man zwischen Schokozungen, Herrenkuchen und Honigwein nicht herumkommt.

Es ist ein Kreuz mit den Wuchteln. Zur Buße unternimmt man einen Ausflug an die frische Luft. Dort ist man vor sündigen Fehltritten aber auch nicht gefeit. Im hintersten Winkel der unberührten Walstern etwa, am Ende des Denkmälerweges am Ufer des glasklaren Hubertussees, lauert die Wuchtelwirtin. Vor ihren Kaiserwuchtln gibt es einfach kein Entkommen. Groß wie Suppenteller, belasten deren üppige Schokoladen-SchlagobersSeiten nicht nur die Gürtelbänder, sondern auch das asketische Gewissen. Will man danach noch durch das „luckerte“ Kreuz passen, durch das der Legende zufolge heiratswillige Frauen auf der Suche nach einem Göttergatten gehen müssen (über den Kreuzweg der Männer schweigt die Legende sich allerdings aus), ist schon wieder Buße angesagt.
Als letzter Ausweg aus der Hölle kalorischer Maßlosigkeit bietet sich der Fußmarsch auf die Bürgeralm an. Dort rauschen beim Aufstieg die Wälder und oben erklingt dann die „Bergwelle“, ein Veranstaltungsreigen mit großen Wasserspielen und Open-Air-Konzerten.

Buße mit Bus und Bahn. Wer guten Umweltgewissens öffentlich nach Mariazell pilgern will, dem sei zu Geduld geraten. Man lässt Schusters Rappen im Schuhregal und den Proviant im Kühlschrank – und hat beim Anblick der Basilika trotzdem einige Sünden abgebüßt. Von Graz nach Kapfenberg kann man noch Nerven sparen und Bahn fahren. Dann wird’s kompliziert. Die Karte für den Bus lässt sich am Bahnschalter nicht lösen, der Schaffner weiß von nichts, die Kapfenberger Bahnhofsbeschilderung ebenso wenig. Wo ist eigentlich dieser Europaplatz? Und wie kommt man in sieben Minuten hin? Reisende mutieren zur Herde der verlorenen Schafe. Doch Gott hat ein Einsehen und der Bus Verspätung. Warum man nicht in Bruck umsteigen könne, weiß der Fahrer nicht. Es sei halt eine Frage der Zeit, und die liege in Gottes Hand. Oder beim Verkehrsaufkommen. Während der langen Busfahrt verfallen die Passagiere in Meditationsstimmung, sei’s, um dem zunehmenden Blasendruck, sei’s, um der Beschallung vom Regionalsender zu entkommen. Immerhin, die Reise nimmt ein pünktliches Ende, die unfreiwilligen Pilger stürzen ins Freie. Allerdings nicht in Richtung Wallfahrtskirche, sondern erst mal zur Kiosk-Toilette. Für seinen Morgenkaffee hat man spürbar zur Genüge gebüßt. 

TIPPS

Lebkuchen Pirker: Traditioneller Hersteller für Honig- und Speziallebkuchen, Liköre, Confiseriespezialitäten. Grazer Straße 10, www.lebkuchen-pirker.at

Gasthof Filzwieser: feine regionale Küche, Bundesstraße 78, St. Sebastian, www.weinflug.at

Lurgbauer: Legendäre Adresse, sehr gute Rindfleischküche, eigene Landwirtschaft. Lurg 1, Sankt Sebastian www.lurgbauer.at

Wirtshausbrauerei Girrer, kleinstes Viersternehotel Österreichs mit nur zwei Zimmern; das Braumeisterzimmer ist rustikal. Mit Brauerei im Haus. Wienerstraße 5, bierundbett.at

Infos zur Region: www.hochsteiermark.at,www.mariazell.at

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