Patagonien: Leeres Land

Uraltes Eis, baumfällende Biber, Märchenschlösser aus grauer Luft: Patagonien bietet den Luxus einer unberührten, extrem jungen Landschaft – auch vom Schiff gesehen.

INFO

Dieses dreckige Heulen klingt beim ersten Hinhören wie das Anstarten eines Motorrads. Sagen wir, ein Mechaniker lässt im Stand eine alte Norton aufjaulen. Aber in Wirklichkeit ist es das Schnauben von zwei See-Elefanten-Männchen, die sich nebeneinander im seichten Wasser streiten. Eine kleine Kolonie von See-Elefanten, höchstens 25 Exemplare, lebt in der Ainsworth Bucht am Südende Feuerlands. Zwei bis drei Meter vor der Küste liegen sie ruhig im Wasser, man könnte sie für Felsen halten. Die Monstren mit den bemerkenswerten Rüsselnasen sind kleine Störungen von Leuten mit Schwimmwesten gewohnt, die aus Zodiac-Schlauchbooten steigen, um eine der jüngsten Landschaften der Welt zu betrachten. Vor achtzig Jahren bedeckte das Land noch der Marinelli-Gletscher, der im Hintergrund glitzert. Erderwärmung? Ganz so einfach ist es nicht. Wissenschaftler forschen nach Gründen für seinen überhasteten Rückzug.

Wo vor wenigen Jahrzehnten Eis war, breitet sich jetzt, als hätte jemand den Deckel von einer Dose gerollt, eine neue Welt aus. Moose, Flechten, Büsche: Natur im Kleinformat. Pilze schießen in allen Größen aus der Erde, lappenohrig, braun, violett. Kann man die essen? Paula – sie kennt die Landschaft seit zwanzig Jahren – muss lachen. „Ja, das ist immer die erste Frage der  Europäer. Antworten wir so: Die Argentinier essen Fleisch und die Chilenen essen Fisch – Pilze aus dem Wald stehen für beide nicht zur Debatte.“

Außerhalb des Wassers existieren kaum größere Säugetiere – Spuren von Füchsen sind zu finden, und, unübersehbar, die von den Bibern. Erst seit den Vierzigerjahren heimisch, Einwanderer durch Import aus Kanada, sind sie der große Schädling dieser Landschaft. „Sie bauen ihre blöden Dämme überall hin und fällen die Hälfte der Bäume“, sagt Paula. Die Zähne des Bibers wachsen lebenslang – um diesem irrsinnigen Wachstum Einhalt zu gebieten, nagt er. Wie ein umsichtiger Baumfäller kennt er die Techniken, mit denen er Bäume zum Sturz bringt, die ein Tausendfaches seines Körpergewichts wiegen und ihn kaum je erschlagen. Manche Leute meinen, wer verantwortungsvoll sei, erschieße Biber. Doch gibt es mittlerweile Aussiedlungsprojekte, um die endemische Natur zu schützen.

Viele Farben Grau. Feuerland bedeckt die größte Insel Patagoniens, jenes steppenartigen und inselreichen südlichsten Teils Amerikas, den sich Chile und Argentinien entlang einer schnurgeraden Grenze aufteilen. Nicht immer herrschte Menschenleere. Der portugiesische Weltumsegler Fernão de Magalhães (1480–1521), besser bekannt als Magellan, unterwegs für die spanische Krone, verwendete die Bezeichnung Patagonien erstmals, als er die hochgewachsenen Tehuelche-Indigenen als „Patagones“ bezeichnete, zurückgehend auf ein Rittermärchen, in dem ein Riese Pathagón hieß. Heute betrachtet man die Magellan-Straße staunend, schlägt sie doch in dem Labyrinth aus Wasser, Inseln und Land tatsächlich die kürzeste Route einer Amerika-Umschiffung ein. Magellan bewerkstelligte das mit einer fünfschiffigen Flotte – die Weltumseglung (1519–1522) gelang letztlich nur einem seiner Schiffe, der „Victoria“, die 18 Männer der Ursprungsbesatzung heimbrachte; er selbst war auf den Philippinen einem Kampf mit Indigenen, den er selbst angezettelt hatte, zum Opfer gefallen. Geblieben ist von ihm die originelle Verbindung zwischen den zwei Weltmeeren, durch das Herz des großen, leeren Patagonien, das noch bis zu unserer Epoche Entdeckungspotenzial bot. „Ein Gewirr von Inseln, Gletschern, Kanälen, Gebirgen und undurchdringlichen Urwäldern“, nannte es der deutsche Abenteurer und Flugpionier Gunther Plüschow, der es in den späten Zwanzigerjahren durchfuhr, überflog und 1931 abstürzte.

Vor Magellan gab es 20.000 indigene Patagonier. Um 1900 lebte noch ein Zehntel davon, heute leben nur vereinzelte. Cristina Calderón aus Puerto Williams ist die letzte Yamana-Indianerin. Von ihr existiert eine Aufnahme: „Vergesst eure Sprache nicht, vergesst eure Kultur nicht“, sagt sie, die ihrer Urenkelin noch ein paar Worte der untergehenden Sprache beibringen will, den Nachkommen – den Nachkommen aller Völker. Das ist die Botschaft der alten Dame.

Meistens hängen tiefe, graue Wolken über dem Land. Die Schattierungen sind vielschichtig, man wähnt sich in einer pastellfarbenen Welt, aber jene Farbe, die vorherrscht, ist Grau und graueres Grün. Es wird kälter, der Regen peitscht. Das geht Stunden oder Tage so – und plötzlich erscheint dieses blaue Loch in der Wolkendecke, durch das die Sonne sticht, ein Regenbogen schiebt sich zwischen die Gletscher, der Himmel reißt auf, und für einen Moment zeigt sich die Landschaft als grelles, buntes Spektakel, die zackigen Gebirge wie unwirkliche Märchenschlösser. Plüschow resümierte: „Dieses Feuerland, namentlich der westliche Teil, der fast immer unter tief hängenden Wolken verdeckt ist, in dem sich die fast ewigen Weststürme und Regengüsse austoben, hat seit Jahrhunderten eine geheimnisvolle Anziehungskraft auf die Menschen ausgeübt.“

Australis, der Süden. Das Expeditionsschiff Via Australis startet im chilenischen Punta Arenas und befährt die verwirrenden Wasserstraßen bis Ushuaia in Argentinien. An die 100 Passagiere bewohnen fünf Tage lang das vierstöckige schwimmende Luxushotel, chauffiert vom hohen, schmalen Kapitän Enrique Rauch, mit chilenischer Besatzung. Ausflüge werden mit schwarzen Zodiacs absolviert, die wackelnd per Kran zu Wasser gelassen werden. Die Idee dahinter: Patagonien, das „leere Land“ (Bruce Chatwin) ist am besten vom Wasser aus besichtigbar. Nach Marinelli-Gletscher und See-Elefanten steht eine Fahrt um die naturgeschützten Ilotes Tucker an, wo eine schwer überblickbare Menge von Magellan-Pinguinen lebt. Schätzung: 15.000 Stück. Die braune Robbe auf dem Felsen ahnt die hohe Zahl, sie lässt sich ins Wasser platschen und sieht nach, ob sie einen der langsameren erwischt. Weniger Glück hat sie bei den lokalen Kormoranen, den von der Weite wohl pinguinähnlichsten Vögeln der Welt. Denn die sind schnell davon.

Die Darwin-Kordillere, zur Gänze im chilenischen Teil Feuerlands, hat zwei miteinander nicht verbundene Eismassen, riesige Bulldozer von erschreckender Langsamkeit. Zur ersten gehört der Glaciar Pia, erreichbar durch eine Sackgasse, die vom Beagle-Kanal abgeht. Er ist einer jener Gletscher, denen man beim Kalben zusehen kann. Trocken ploppend oder von vielfachen, hallenden Echos begleitet, stürzen alle paar Minuten uralte Eisbrocken in ein Meer aus kleinen bis mittelgroßen Eisbergen.

Die zweite Eisfläche bildet eine regelrechte Gletscherstraße, blau glitzernde Zungen strecken sich dem Beagle-Kanal entgegen: der Glaciar Romanche, tiefblau mit einem enormen Wasserfall, der etwas zurückgezogene Glaciar Roncagli (auch Alemania), der freche Italia, der kompakte Holanda. Auf der Expeditionsfahrt ziehen die blauen Riesen wie menschenleere Dörfer vorbei. Im grauen, weißen oder schimmernden Licht: Jeder Tag hat vier Jahreszeiten. Innen herrscht Luxus, sofern man Expeditionen als luxuriös bezeichnen kann, Vollverpflegung, audiovisuelle Vorträge, und am Ende wird sogar die Seekarte des Kapitäns versteigert.

Weltende. Kap Hoorn, Cape Horn, Cabo de Hornos: Die Via Australis ankert am südlichsten Punkt der zivilisierten Welt, nur noch 954 Kilometer von der Antarktis entfernt. Zwischen Atlantik und Pazifik ist es selbst kein Teil des Festlandes, sondern liegt auf der südlichsten der Wollaston-Inseln. Ein rauer, wilder Weltteil: Die Landung mit den Zodiacs ist nur bei schwachem Seegang möglich.
Der zugängliche Teil des Kaps besteht aus 160 Holzstufen, die auf ein Plateau führen. Dort stehen das Kapmonument und der Leuchtturm. Im einjährigen Rhythmus wohnt dort in völliger Abgeschiedenheit eine chilenische Familie, dieses Jahr die Espinozas. Den Vater, Manuel Espinoza, schreckt das alles nicht, er hat der chilenischen Armee das letzte Jahr in der Antarktis gedient, „das bisschen Schnee halten wir schon durch.“

Gattin Carla Espinoza, die T-Shirts und Hauben verkauft, sagt, die Kinder seien hier schon etwas einsam.
„Eigentlich leben wir in Valparaíso. Dieses Jahr sehen wir als Abenteuer. Und so können wir endlich beim Vater sein.“ Für Notfälle haben sie einen Hubschrauberlandeplatz – aber eigentlich sind keine Notfälle vorgesehen. „Zwischen September und März kommen Kreuzfahrtsschiffe. Im Winter kommt keiner mehr.“ Wenn der Kapitän der M/S Via Australis einen dementsprechenden Beschluss fasst, fährt sie über das offene Meer – durch die wilde Drake Passage, die Drakestraße. Und flüchtet dann wieder in die zerrissene, zerzauste Inselwelt, und, nach Gunther Plüschow, zu den „tiefen Rissen, Buchten und Fjorden, in denen sich die Stürme, die Fallböen, die Regengüsse in ungezähmter Wildheit austoben. Schroff und steil fallen die Gebirge ins Meer, von ewigem Eis sind ihre Höhen bedeckt, aus denen nach allen Seiten hin wunderbare Gletscher ins Meer fließen.“ Zurück nach Ushuaia, das bunte argentinische Küstenstädtchen, in die feuerländische Zivilisation.

Südlichste Stadt der Welt Einst gab es das Match zwischen Punta Arenas (Chile, 120.000 EW) und Ushuaia (Argentinien, 64.000 EW) um den Titel der südlichsten Stadt der Welt. Das putzige, hübsche Ushuaia, auch als Skigebiet bekannt, entschied ihn für sich: 54°48‘ südliche Breite, bevor die Chilenen Puerto Williams ins Rennen schickten, noch etwas südlicher, der Ort hat jetzt Stadtrecht, aber dort leben nur knapp 3000 Menschen – gilt also irgendwie nicht wirklich.

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