Zanskar: Hinter 70.000 Bergen

In Zanskar, einem ehemaligen Königreich, versteckt sich hinter der Westkette des Himalajas das tibetisch geprägte „schöne weiße Land“ vor der Gegenwart.

Zanskar, das „schöne weiße Land“, wird gut bewacht. Kun und Nun, die 7000 Meter hohen Eisriesen, beherrschen den Zugang zum einstigen Königreich. Die Naturgiganten schüchtern wohl jeden Reisenden ein, der sich der verborgenen Region im westlichen Himalaja nähert. Die vom Sturm getriebenen Schneefahnen auf ihren Gipfeln wirken auf uns wie das Fauchen von Drachen, als wollten sie Eindringlinge davon abhalten, das buddhistische Wunderland zu betreten.

Tatsächlich konnte sich Zanskar mit seinen Klöstern, seinen tibetischen Dörfern und Traditionen den Einflüssen der modernen Welt entziehen. Acht Monate im Jahr ist die Gebirgsregion wegen der verschneiten Pässe isoliert. Die einzige Straße nach Zanskar ist nur in den Sommermonaten befahrbar und nicht viel mehr als eine 240 Kilometer lange Holperpiste aus dem Jahr 1978. Der Belag der Straße ist längst zerbröselt. Nur selten klettert die Tachonadel über die 20-Stundenkilometer-Marke. Ein Höllenritt. Wir sind permanent bemüht, das Gleichgewicht zu halten, um Blessuren zu vermeiden. Voll konzentriert steuert Muhammed Achmed den Jeep vom muslimischen Kargil im indischen Bundesstaat Jammu und Kashmir in das ehemalige Königreich.

Leuchttürme.
Allmählich ändert sich die Landschaft. Die grünen Felder des Surutals weichen grauen und ockerfarbenen Hochtälern voller Geröll, Gletscherzungen lecken aus den Seitentälern. Über Stunden folgen wir der Piste hinein in die Hochgebirgswüste. Es ist ein raues, leeres Land, ohne nennenswerte Vegetation und ohne Menschen. Doch dann: die ersten Gebetsfahnen, die ersten weißen Chörten, die glockenförmigen Reliquienschreine, die wie Leuchttürme in schwerer See wirken. Aus Steinen geschichtete Mani-Mauern mit eingravierten heiligen Formeln zeigen an, dass wir uns Zanskar nähern. Im Schnittpunkt von fünf Tälern thront dann endlich einer Festung gleich auf einem Hügel das Kloster Rangdum, das „Kloster der langen Trompete“. Die Anlage gilt als die westlichste sakrale Stätte des tibetischen Kulturkreises. Wie betrunkene Matrosen auf Landgang schwanken wir den Hügel zur Abtei hinauf und bitten um Einlass. Vermummte Mönche öffnen uns. Sie führen in der Einsamkeit der Hochtäler ein trotziges Leben – gegen den eisigen Wind, gegen Schnee und Frost, gegen den Verfall. Die kostbarste Figur des Kloster ist Yeshe Dragspa, der einst von Zentraltibet auf einem Adler hierhergereist ist und dort, wo das Gebäude heute steht, meditiert hat. Es bleibt nicht viel Zeit, den unheimlichen Ort länger zu erkunden, denn die Schmelzwässer der Schneegiganten schwellen mit jeder vorgerückten Stunde weiter an. Eiswasserbäche werden mit der zunehmenden Wärme des Tages zu reißenden Flüssen. Mitunter droht das Wasser bei manchen Furten den Motor zu überschwemmen.

Der erste Europäer, der nach Zanskar gelangte, war Alexander Csoma de Körös, ein ungarischer Gelehrter. Csoma reiste vor knapp 200 Jahren unter weitaus abenteuerlicheren Bedingungen in die abgeschiedene Region. Er marschierte von Europa zu Fuß hierher. Mit fünf Pfund Tee und einem Empfehlungsschreiben des Premiers von Ladakh in der Tasche, klopfte er im Sommer 1823 an die Tore der Zangla-Burg, in der die Zanskar-Könige residierten. Der mehrstöckige Bau aus Lehm thront auch heute noch auf einem Bergkamm über dem Zanskartal.

Heiliger Ort. Die Anlage ist ein Monument jener Zeit, als Zanskar noch nicht zu Indien gehört hat. Die Kammer, in der der Sprachgelehrte Csoma Tibetisch lernte und das erste Englisch-Tibetisch-Wörterbuch verfasste, wirkt unberührt. Der  winzige Raum wird beschützt von fein gearbeiteten Buddhafiguren. Weiß gepudert vom Staub der Jahrhunderte erwarten sie uns wie ein Begrüßungskomitee aus der Vergangenheit. Vergilbte Gebetsschals, geheimnisvolle Amulette, vertrocknete Opfergaben und abgebrannte Butterlämpchen machen den dämmrigen Raum zu einer Weihestätte. Spinnweben überziehen drei silberne Grabchörten, in denen die Überreste von Lamas ruhen, die die Buddhaschaft erlangt haben. Die kleinen mit Juwelen dekorierten stufenförmigen Urnen stehen, schief geneigt und von Spinnweben überzogen, auf modrigen Tischchen. Die sakrale Stätte zwingt uns zu flüstern. „Manche der Buddhas sind mehr als fünfhundert Jahre alt“, versichert uns Balázs Irimiás, ein ungarischer Archäologe, leise. „Die Figuren sind zu heilig, um sie zu berühren. Niemand hat sie umgruppiert, niemand hat sie gestohlen. Csoma war ihr Gast. Nichts hat sich verändert. In Zanskar ist Geschichte greifbar nah.“ Balázs Irimiás leitet eine Gruppe ungarischer Studenten, die den Palast von Zangla, der einstigen Hauptstadt Zanskars, restaurieren. Drei Monate im Jahr, erzählen die Volontäre, richten sie eingefallene Mauern wieder auf, verputzen Wände, spachteln an zerbröselnden Treppen und wuchten neue Holzbalken in die Höhe.
„Alles in allem ist das Schwerarbeit“, sagt Balázs Irimiás, Initiator des Projekts. 2007 war der Architekturstudent auf seiner Reise durch Zanskar auf den Bau aus Lehm gestoßen. Csoma, der Sprachgelehrte aus Europa, so erfahren wir, lebte wie ein Eremit in der Burg. Im Winter verzichtete er auf wärmende Kohlebecken, da der Rauch in den Augen brannte und ihn beim Lesen störte.
Touristen bereisen Zanskar nur im Sommer, wenn sich die Gebirgsregion von ihrer freundlichen Seite präsentiert. Es ist die Jahreszeit, in der die Weizenfelder der Bauern wie saftig grüne Teppiche auf dem grauem Geröll liegen. Butterblumen, Astern, Geranien und die Königin unter den Blumen im Himalaja, der Blaumohn, überziehen die Almen. Hinter der Hochebene erheben sich die bis zu siebentausend Meter hohen Eisriesen der Zanskarkette. Ihre Gletscher glitzern vor einem strahlend blauem Himmel. Herden von Yaks und Schafen fressen sich auf fetten Hochalmen satt.

Wir erkunden die Gompas, die buddhistischen Klöster, die schon standen, als Csoma nach Zanskar kam. Wie mittelalterliche Trutzburgen thronen sie über den Dörfern an den Flüssen. Die Luft hier in viertausend Metern Höhe ist dünn und der Aufstieg zu den verschachtelten, weiß getünchten Klostergebäuden ein anstrengendes Unternehmen. Die Mühe aber wird belohnt mit fantastischen Ausblicken über die  Lehmhäuser, die Felder und Flüsse.

Das Leben hinter den Klostermauern hat sich über die Jahrhunderte kaum geändert. Nach wie vor ist der Alltag der Nonnen und Gelbmützenmönche in den Gompas beschwerlich. Es gibt weder fließendes Wasser noch Strom oder gar eine Heizung, die die Räume hinter den zugigen Mauern behaglicher machen könnte. Die Nahrung beschränkt sich gerade in den Wintermonaten, wenn die Vorräte an Fleisch und getrockneten Früchten verbraucht sind, auf Tsampa, das Gerstenmehl, das mit fettem Buttertee gemischt, Grundnahrungsmittel der Zanskaris ist.

„Im Winter sind wir acht Monate lang vollkommen abgeschnitten und auf uns gestellt.“ Tendsin Gyeko, ein Mönch aus dem Kloster Tongde, knabbert an dem Fruchtriegel, unserem Mitbringsel zum Buttertee in der Klosterzelle. Das „German Tsampa“, murmelt er anerkennend, sei nicht schlecht. Manchmal, so gesteht er flüsternd, habe er das heimische Gerstenmehl doch ziemlich satt.

Hoher Besuch.
Tendsin Gyeko schlurft vor uns her in den Gebetsraum. Ehrfürchtig streicht er über ein eingerahmtes Schwarz-Weiß-Foto, das den Potala-Palast in Lhasa zeigt und berührt als Zeichen der Verehrung den stets frei gehaltenen Thron des Dalai-Lamas mit seiner Stirn. „Seine Heiligkeit hat uns 2007 einen Besuch abgestattet.“ Tendsin Gyeko erinnert sich noch genau, welchen Spaß das geistige Oberhaupt der Tibeter hatte, auf einem Yak den steilen Klosterweg hinaufzureiten. „Wissen Sie, Tibet und Zanskar standen schon immer in enger Verbindung. Unsere Länder waren einst durch einen See miteinander verbunden. Damals ruderte der Yogi Marpa in einem Lederboot aus Tibet herüber und gründete unser Kloster. Tausend Jahre ist das her.“

Durch das Fenster im benachbarten „Raum der Schutzgottheiten“ fällt nur schwach das Licht. Grimmig starrende Gottheiten dominieren die Wandbemalung. Inmitten lodernder Flammen tanzen sie mit hervorquellenden Augen, wirren Haaren, aufgerissenen Mäulern und Totenschädeln auf einer Schlangenbrut. Verhüllte Standbilder, die das Kloster vor Krankheiten und Unglück schützen, beherrschen die rußgeschwärzten Ecken des Raums, der ein Geheimnis birgt: Die Regale sind gefüllt mit Büchern, die die Mönche nach der Invasion der Chinesen in Tibet über die Bergpässe bis nach Zanskar geschleppt haben. In den vergessenen Abteien des kleinen Königreiches waren sie vor den chinesischen Invasoren, die die meisten Klöster Tibets zerstörten, sicher. Tendsin Gyeko zieht vorsichtig ein Paket aus der Sammlung von Schriften. Aus seidenen Gebetsschals wickelt er ein altes Buch, bestehend aus tausend übereinandergelegten Blättern. Die tibetischen Schriftzeichen können wir nicht lesen so bleibt das, was Tendsin Gyeko da, mit Ehrfurcht murmelnd, aus den Seiten liest, sein Geheimnis. Csoma de Körös indes war darauf versessen, die buddhistischen Werke, die in Zanskars Klosterbibliotheken ruhten, zu entschlüsseln. Sein Forschungsdrang trieb ihn immer weiter hinein in die Berge. Das sagenumwobene Höhlenkloster von Phuktal war sein Ziel. Auch dort, vier Tagesritte von Zangla entfernt, gab es Schriften buddhistischer Lehren, von denen in Europa niemand eine Ahnung hatte.

Wir folgen Alexander Csoma auf seinem Weg. Ein nicht ganz gefahrloses Unternehmen: Wie ein vernarbter Schnitt im Fels zieht sich der Pfad kaum einen halben Meter breit an der Schlucht des Lingti-Flusses entlang. Von Gletscherwässern gespeist, donnert der Lingti zu Tal, einmal als brodelndes Ungeheuer, ein anderes Mal als leise rauschendes, silbernes Band, je nach Gefälle. Ein Fehltritt oder ein Stolpern des Mulis, es wäre das Ende unserer Reise in die Vergangenheit. Links unten tobt der Fluss, rechts ragt steil der Fels, für Mensch und Tier bleibt nicht viel Platz. Tendsin Gyeko, der Mönch aus dem Kloster Tongde, hat uns ja gewarnt. Der Weg zum sagenumwobenen Höhlenkloster Phuktal sei weit, drei Tage müssten wir reiten. Wir finden Unterkunft bei Bergbauern, die auf 4000 Metern Höhe in grünen Flussoasen siedeln. Der Weiler läuft zusammen, um den mit Yakdung befeuerten Kanonenofen geschart gelingt eine Unterhaltung über die Freuden und Nöte hier auf dem Dach der Welt. Wir fragen, wie man hier leben könne, bei 40° unter null und Schneefällen, die jeden Zugang zu den Siedlungen über Monate unmöglich machen.
Unsere Fragen sind aber nur Anlass zur Heiterkeit. Die dunkle Zeit des Jahres sei die beste, heißt es. Wenn es draußen stürme, kuschle sich die Familie in der Küche, die als einziger Raum warmgehalten wird, zusammen. Man vertreibe sich die Zeit mit viel Schlaf und Plaudereien, mit Kartenspiel und Essen. „Changbier“, bekennt Lanbu lachend, „trinken wir dann jeden Tag.“ Zanskar sei im Winter ein schönes weißes Land.

Phyi-Glin-Gi-Grwapa. Es gilt noch eine Hängebrücke über den reißenden Lingti-Fluss zu überqueren und einen Steilhang zu nehmen, bevor das Kloster Phuktal vor uns liegt. Der Anblick des Komplexes ist atemberaubend. Wie ein Adlerhorst klebt die Gompa in einer Felswand. Mittelalterliches Gemäuer drängt aus einer Höhle. Weiße Chörten und Mani-Mauern flankieren den Weg zum Eingang der Abtei.

Drinnen huschen Gelugpas, Gelbmützenmönche, in safranroten abgewetzten Roben und sonnengebleichten Filzhüten durch die dunklen Gassen. Brisante Gerüche steigen aus offenen Abwasserkanälen. In rußgeschwärzten Gewölben dampfen schwere Bottiche, gefüllt mit Buttertee und Gerstenbrei, Küchenabfälle werden durchs Fenster in den Abgrund gekippt, während sich weiter oben vermummte Gelugpas zur Andacht versammeln.

In Phuktal ist Vergangenheit Gegenwart – wir haben Alexander Csoma eingeholt und sind kaum überrascht, eine Ritzung in der Tempelhöhle zu finden: Eingekratzt in den Fels steht dort, dass Czoma von August 1825 bis zum November 1826 im Kloster Pukthal lebte. Wir malen uns aus, wie er in den kargen Zellen des Klosters hauste, in höhlenartigen feuchten Unterkünften ohne Bett. Einsam wie ein Eremit, so heißt es, hat er auf dem Vorsprung vor seiner Zelle die Zeit verbracht und sich im Wesen gewandelt. Religiöse Lehre und Selbstkasteiung machten aus Csoma einen neuen Menschen. Die Mönche nannten ihn Phyi-Glin-Gi-Grwapa, den fremden Schüler. Die Mönche des Klosters verehren Csoma noch immer, erzählt der Abt. „Sein Leben als Einsiedler, sein beharrliches Studium und sein Wissen über den tibetischen Buddhismus haben ihn zu einem der unseren gemacht.“  Vor unserer Abreise aus Zanskar zurück in die Gegenwart besuchen wir noch einmal Balázs Irimiás, den Archäologen aus Budapest in der Zangla-Burg, der seinem Landsmann Csoma ein Denkmal errichten will. „Ich war besessen von der Idee, den Palast von Zangla, in dem Csoma so lange lebte, zu renovieren. Also suchte ich Sponsoren und bat die Universitäten in Budapest um Unterstützung.“ Die Mittel reichten aber nicht aus.

In der Not wurde Balázs Irimiás erfinderisch, um sein Projekt zu finanzieren: Die aus Kuhmist, Häcksel und Lehm geformten Ziegel, die auf dem Hof der Klosterburg in der Sonne trocknen, sind käuflich zu erwerben. „Wir gravieren den Namen des Käufers in einen der Adobesteine und verbauen ihn in dieses schöne, tausend Jahre alte Gebäude. Stellen Sie sich vor, Sie sind dann Teil eines Denkmals im Himalaja! Vergessen Sie also nicht, unsere Geschichte zu erzählen, wenn Sie nach Europa zurückkehren!“, lacht Balázs Irimiás.

Seine Idee, über Internet Steine an Sponsoren zu verkaufen, hat sich bewährt. Inzwischen beherrscht die fünfhundert Jahre alte Anlage, die in unserem Reisehandbuch noch als „nicht sonderlich interessante Ruine“ beschrieben wird, wieder äußerst imposant die weite Ebene des Zanskar-Flusses.

TIPPS

Shopping. Um den großartigen Kashmir Chai, eine Mischung von Schwarztees und sechs Gewürzen, zu erwerben, muss man nicht nach Indien/Kaschmir/Zanksar/Ladakh. Es geht auch für 12,70 € online: www.kusmitea.com/deReisezeit.Reisen nach Zanskar sind nur im Juli und August möglich. Die wenigen Unterkünfte sind auch nur in den Sommer-monaten geöffnet. Eine Rundreise zu den Klöstern ist per „Taxi“ möglich. Die Fahrzeuge werden von der Taxi Union in Padum vermittelt. Pferde werden über die Gästehäuser vermittelt.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.