Prag ahoj!

Kaum eine Stadt hat ein so lebendiges Flussufer wie die tschechische Metropole. Märkte, Hotels in Hausbooten, Cafés und Biergärten. Und dazu Inseln und Brücken.

Slapadlo ist ein schönes Wort. Nicht einfach auszusprechen, aber wenn’s einmal heraußen ist, dann schwappt es so richtig von der Zunge. Schla-pad-lo. In Prag gibt es unzählige Šlapadlo-Verleihe, so das tschechische Wort für Tretboot. Auch Ruderboote und Kanus werden auf den Moldauinseln vermietet. Am Sonntag schaukeln auf dem Wasser viele bunte Tupfen; rot und grün, blau und gelb. Der Bootskorso auf der Moldau ist bei Einheimischen und bei Touristen gleichermaßen beliebt. Auch ein Schwan mit Pedalantrieb kommt vorbei – und unweigerlich fällt einem der große, in Mähren geborenen Opernsänger Leo Slezak (1873–1946) ein, der bei einer „Lohengrin“-Aufführung die Überfuhr mit dem Schwan, dort allerdings auf Rollen, verpasst hatte und dem Bühnentechniker laut zurief: „Wann fährt der nächste Schwan?“ Der nächste Schwan kommt in einer Stunde zurück, erklärt der Bootsverleiher auf der Sofieninsel. Aber ein Kanu wäre frei. Prag ahoj!

31 Kilometer fließt die Moldau – tschechisch Vltava – durch das Stadtgebiet; mit Schlingen und Stromschnellen, vorbei an zehn Inseln und Altarmen, zwischen Weingärten und Wäldern, Kais, Häfen und Stränden, Mühlen, Wassertürmen, Fabriksanlagen und Palais. Die Moldau entspringt im Süden des Landes, im Böhmerwald, und mündet in die Elbe. Sie ist nicht nur Tschechiens größter Strom, die Moldau ist schlichtweg Identifikation, Imagination und Institution. Sie ist Teil des tschechischen Selbstbildes und muss mit niemandem geteilt werden. Die Moldau ist böhmisch.

Zehn Inseln.
„Es war sonntags, dass mein Konzert vom Stapel lief, in den Räumen des Sofieninsel-Saals. Hu! Wie war es so leer und so kalt. Draußen fiel der Schnee in reicher Menge und verwischte bald die Spur der wenigen Leutchen, die, weil sie Freikarten bekamen, dennoch mein Konzert besuchten . . .“, schrieb Friedrich Smetana 1862 an seine Frau Bettina. Auf der Sofieninsel (Zofín) feierte der Komponist keinen rauschenden Erfolg. Der kam mit der „Moldau“ einige Jahre später, bei der Prager Uraufführung 1875. Die Moldau erreicht bei den sagenumwobenen Fundamenten der Burg Vyšehrad die Stadt Prag, und das ist der Zeitpunkt, zu dem die Tondichtung, die Stromschnellen hinter sich lassend, von Moll zu Dur wechselt –  eine Referenz des tschechischen Komponisten Smetana an die Stadt.

Als 1930 auf der Sofieninsel die Galerie Mánes, benannt nach dem Maler Josef Mánes, in unmittelbarer Nähe des mittelalterlichen Wasserturms errichtet wurde, war das eine Ansage der Moderne an das historische Prag. Über der Wasserkante erstreckt sich der weiße Kubus im auffälligen Kontrast zu den dunklen mittelalterlichen Bauten und den barocken Schwüngen der Kirchtürme. Aktuell wartet der funktionalistische Bau auf eine Renovierung.

Am gegenüberliegenden Ufer, auf der Kleinseite, geht es dem Museum Kampa auf der gleichnamigen Insel eindeutig besser. Das große neogotische Gebäude der ehemaligen Sova-Mühle beherbergte im 19. Jahrhundert die erste Dampfmühle der Stadt. Nach der Samtenen Revolution 1989 schenkte Meda Mladek ihre Kunstsammlung, die sie und ihr Mann Jan Mladek in der amerikanischen Emigration erworben hatten, der Stadt Prag. Mit dem Kauf tschechischer Kunst des 20. Jahrhunderts unterstützten sie die vom Regime verfolgten Künstler. Die Insel Kampa direkt unter der Karlsbrücke ist – allen vorbeiziehenden Touristenströmen zum Trotz – ein stiller Ort. Unter dem Geäst einer 200 Jahre alten Platane picknicken Studenten. Die Insel ist durch den Teufelsbach (Čertovka) von der Prager Kleinseite getrennt. Nässe zeichnet Wellen an die Hausmauern. Moder steigt in die Nase. Auf einem hölzernen Mühlrad wächst Moos.

Die zehn Moldauinseln sind Oasen im hektischen Stadtleben: Auf der Kinderinsel Dětský ostrov gibt es zahlreiche Spielplätze, auf der Rudererinsel Veslařský ostrov haben die Ruderklubs ihre Bootshäuser. Weniger beschaulich geht es auf Líbensky ostrov, der Liben-Insel, zu. Müllwägen fahren im Viertelstundentakt, um den Schutt der Stadt hier abzuladen. Und davon gibt es genug. Prag wächst an allen Ecken und Enden und besonders entlang der Moldau. Das, was London – und später Hamburg – mit den Docks vorgelebt haben, das passiert aktuell in Prag. Im Stadtteil Holešovice entstand am linken Moldauufer ein junges Viertel, durchbrochen von den alten Backsteinbauten des Hafenareals. Und gegenüber, am rechten Ufer, gaukeln uns Developer auf großen Transparenten die schöne neue Welt vor. Auf einer Fläche von 120.000 m2 wird in Prag 8 ein neues Stadtviertel namens „Dock“ gebaut, mit luxuriösen Wohnungen, einem Jachthafen, einem Pier und einem Park.

Kilometerlanges Ufer. „Dem Dichter zu Ehren wurde Absinth getrunken, der grüner als alles Grüne ist, und wenn wir von unserem Tisch aus dem Fenster blickten, floss die Seine unter dem Kai. Ach ja, die Seine!“ (Jaroslav Seifert). Welchen Dichtern zu Ehren was und wie viel getrunken wurde, das weiß vielleicht nur die Moldau, die an den großen Fenstern des Café Slavia vorbeiströmt. Legionen von Dichtern saßen im berühmten Café am Moldaukai: Franz Kafka, Max Brod, Egon Erwin Kisch, Franz Werfel, Johannes Urzidil, Jaroslav Seifert. Letzterer schrieb obige Zeilen, und der Dichter, zu dessen Ehren Absinth getrunken wurde, war der französische Lyriker Guillaume Apollinaire. „Der Absinthtrinker“ heißt auch das Gemälde von Victor Oliva (1861–1928), das das Caféhaus wandfüllend beherrscht.

Nichts zu trinken bekam Rainer Kunze: „Die Nachricht, mir sei in der Slávka – wie das Café Slavia im Prager Slang heißt – der Kaffee verweigert worden war, eilte mir voraus. Wo immer ich mich angesagt hatte – ich wurde mit Kaffee empfangen. Drei Tage und drei Nächte trank ich Kaffee von einer Stärke, die, ließe sie sich ins Militärische übertragen, alle noch verbliebenen eingerückten Panzer außer Gefecht gesetzt hätte: Die Soldaten wären hellwach nach Hause gegangen.“ Das schrieb der Ostdeutsche nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 durch die Sowjets. Der Schriftsteller und Übersetzer hatte einen Mantel sowjetischer Herkunft an der Garderobe des Cafés abgegeben. Die Rache der Ober folgte auf dem Fuß. Mit der Rache der Kommerzialisierung kämpft so mancher Gast. Nicht eine einzige Zeitung liegt im Slavia auf. Wenn das die Dichter wüssten!

Himbeeren aus Melnik, Mehlspeisen aus der mährischen Walachei, Pilze aus dem Böhmerwald, Butter aus der Hana, Weine aus Südmähren, Fische aus der Moldau. Wenn die böhmische Küche in den touristisch frequentierten Lokalen schwer und langweilig scheint – die bäuerlichen Spezialitäten auf dem Moldaumarkt rücken das kulinarische Bild wieder zurecht. Kaum eine Stadt hat ein so lebendiges Flussufer wie Prag. Märkte, Hotels in Hausbooten, Cafés und Biergärten, Radwege, Ruderklubs, Bootsanlegestellen, Stadtstrände oder ganz einfach verträumte Uferpartien von Weiden und Erlen gesäumt. Und alles ist mit der Straßenbahn zu erreichen, die sowohl am linken als auch am rechten Ufer entlangfährt.

Achtzehn Brücken. „Von der Kampa sieht die Karlsbrücke wie eine lange Wanne aus, durch die die Fußgänger fahren, eine Räderkons-truktion unterm Hintern. Im Fluss ächzt Prag mit gebrochenen Rippen, und Brückenbogen springen wie Parforcehunde nacheinander ans jenseitige Ufer.“ (Bohumil Hrabal). Würde Bohumil Hrabal (1914–1997) die Karlsbrücke heute beschreiben, würde er von Fußgängerstaus berichten. Erst weit nach Mitternacht entfaltet sich die Magie der Brücke, wenn nur mehr vereinzelte Nachtgeschöpfe auf steinerne Heilige treffen, auf Ivo, Barbara, Josef und Christophorus, Wenzel, Anna, Antonius und alle anderen. Meistbesucht ist der Heilige Johannes Nepomuk. Der Brückenheilige und inoffizielle Patron der habsburgischen Lande wurde 1393 von der Karlsbrücke gestürzt. Seine Statue zu berühren bringt Glück. Die Bronzereliefs zu seinen Füßen sind von den vielen Händen blankpoliert und beginnen im Dunkeln zu funkeln. Auch das Moldauwasser schimmert nachts unter der Karlsbrücke anders als unter anderen Brücken, denn heute wird die Karlsbrücke wieder mit Gaslicht illuminiert, die städtischen Laternenanzünder mit Zylinder und Umhang bringen die Gaslaternen publikumswirksam zum Leuchten.

Die Karlsbrücke wurde im 14. Jahrhundert im Auftrag Kaiser Karl IV. errichtet, der den Baubeginn astronomisch errechnen ließ, um sie unter einen guten Stern zu stellen. Und das gelang, sie gehört zu den ältesten Steinbrücken Europas. Bis ins 19. Jahrhundert war sie die einzige Brücke der Stadt und wurde landläufig Prager Brücke genannt. Im 21. Jahrhundert führen 18 Brücken über die Moldau. Fenstersturz, Brückensprung – ein wiederkehrendes Phänomen in Prag. Von der Čech-Brücke springt Georg Bendemann – allerdings nur in Franz Kafkas Erzählung „Das Urteil“.

Man könnte auch von der nicht mehr existierenden Kaiser-Franz-Josef-Brücke erzählen, auf der Mauteinheber Štěpán Brych seines Amtes gewaltet hat. Er war ein gewissenhafter Beamter, der kein Pardon, kein Augenzudrücken kannte. Eines Tages wollte es so sein, dass ihm kein Gendarm zu Hilfe eilte und er die Verfolgung eines Mautprellers aufnehmen musste. Dieser rettete sich vor Štěpán Brych, indem er, ja genau:  in die Moldau sprang. Drei Tage später fischte man zwei Wasserleichen aus dem Strom. „In der Faust des einen Ertrunkenen fand man einen Kreuzer. Es war die Leiche Štěpán Brychs, dem es noch im Todeskampf gelungen war, aus der Tasche des Verfolgten einen Kreuzer herauszuholen“, schrieb Jaroslav Hašek 1910 in „Der Amtseifer des Mauteinnehmers Štěpán Brych“.

Die „Brücke der Intelligenz“ ist eine Eisenbahnbrücke am Rande der Stadt. Ihr offizieller Namen steht nur auf dem Papier. Als die Brücke 1955 errichtet wurde, wurden „Intelligenzler“, also Rechtsanwälte, Ärzte, Lehrer, Wissenschaftler etc., im Rahmen der Proletarisierung zu körperlicher Arbeit herangezogen. Bald wurde sie im Volksmund „Most inteligence“ genannt. Da die Brücke technische Mängel aufwies, ist die Bezeichnung doppeldeutig und ein schönes Beispiel tschechischen Humors, hintergründig und hinterfotzig zugleich.

Auf den Brücken wirkt die Stadt fern, es entsteht ein Zwischenraum. Steinmasse, Menschenmasse, Geschichtsmasse, Geschwindigkeitsmasse bleiben am Ufer zurück. Brücken erlauben einen Rückblick und einen Blick nach vorn: Man ist nicht mehr hier und noch nicht dort. Und unten strömt das Moldauwasser, grünbraun, manchmal blaugrau und sonntags mit vielen bunten Booten. 

TIPPS

Kultgehopftes. Staropramen (tschechisch alte Quelle), Bier der zweigrößten tschechischen Brauerei, braucht man auch hierzulande nicht groß vorzustellen, wohl aber die Marke Staropramen Granát, ein dunkles Lager mit fünf Volumsprozenten Alkohol. www.staropramen.de

Kultwaffeln. Kolonáda, „Kurbadwaffeln“ aus Marienbad, zergehen am Gaumen, gehören aber natürlich schon Kraft Foods. www.oplatky-kolonada.cz

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