Nordengland: Von Natunst und Kutur

Herrschaftlich. Rydal Hall, ein Herrenhaus im Lake District, ist das Zentrum des Kunst-Natur-Parcours.
Herrschaftlich. Rydal Hall, ein Herrenhaus im Lake District, ist das Zentrum des Kunst-Natur-Parcours. (c) Christa Langheiter
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In Nordengland, wo Kunst und Natur verschmelzen, ist ein Mann nicht nur ein Mann und ein Baum nicht nur ein Baum.

Echtes Moos? Oder ein grünes Häkelobjekt der Textilkünstlerin Dianne Standen? Tja, gute Frage.
Echtes Moos? Oder ein grünes Häkelobjekt der Textilkünstlerin Dianne Standen? Tja, gute Frage. (c) Christa Langheiter
Herrschaftlich. Rydal Hall, ein Herrenhaus im Lake District, ist das Zentrum des Kunst-Natur-Parcours.
Herrschaftlich. Rydal Hall, ein Herrenhaus im Lake District, ist das Zentrum des Kunst-Natur-Parcours. (c) Christa Langheiter

Man hat schon einen gesehen, schon drei, schon sieben – und immer noch ist da der Impuls, den stattlichen Mann, dem das Wasser bis zum Hals steht und der sich nicht vom Fleck rührt, retten zu wollen.

Man würde sich dabei allerdings schwertun. Denn der penetrant anhaltende Rettungsimpuls gilt einer 650 Kilo schweren Eisenfigur von Antony Gormley. 100 gleiche, lebensgroße Abgüsse des Künstlers haben Bauarbeiter in drei Wochen dauernder Arbeit auf Betonsockel gehievt und fixiert, über drei Kilometer am Strand von Crosby Beach nahe Liverpool verstreut. Und so mancher der gewichtigen Eisenmänner wagt sich bis zu einem Kilometer ins Meer hinaus. Die weniger kecken begnügen sich mit einem mehr oder weniger trockenen Sandplatz. Doch in Sicherheit vor dem Meer sind sie dort auch nicht, denn der Künstler hat den Platz mit Absicht so ausgesucht, dass Ebbe und Flut ihr Spiel mit den Kolossen treiben können. Und um dem Publikum ein Untergangs- und Auferstehungsspektakel zu bieten.

Nicht nur die unterschiedliche Wasserhöhe bei Ebbe und Flut verändert die Wirkung der Eisenmänner tagtäglich, auch das Wetter sorgt für laufende Transformation. Mal wäscht der Regen das Alte ab, mal versetzen die Wolken in Grübelstimmung, mal erhitzt die Sonne die Oberfläche und mit ihr die Sehnsucht nach dem Meer, mal formieren sich Spuren von Rost oder es bildet sich ein keckes Algenkleid. Metamorphose, Transformation. Wie Kunstsinnige das nennen, ist der Vierjährigen, die den Eisenmann zum Spielgefährten macht, aber ebenso egal wie dem Hund, der ihn markiert. Nur der stattliche Herr in den 60ern scheint die Intention des Künstlers mit seinem eigenen sehnsuchtsvollen Blick zum Horizont mitzudenken: die Traurigkeit darüber, einen Ort zu verlassen und die Hoffnung auf eine neue Zukunft an einem anderen Ort, in another place, wie die Installation heißt.

Umrundet, umspült, umstaunt. Seit 2005 werden die Eisenmänner von Antony Gormley nach Besuchen in Deutschland, Norwegen, Belgien und Vorarlberg in Crosby Beach umrundet, umstaunt, umspielt, umspült – und das wohl noch eine ganze Weile. Denn dem Ruf nach New York, der 2006 erfolgt ist, sind die Figuren nicht gefolgt. Trotz politischen Gegenwinds vor zwei Jahren, als der Liberaldemokrat Jack Colbert sich mit Argumenten gegen die seiner Meinung nach teuren und wenig besuchten Figuren Sympathien für die Gemeinderatswahl erschwatzen wollte. Doch der Schuss ging nach hinten los. Ein Proteststurm brach los, „wonderful, magical, fascinating“ blies es ihm entgegen. Und wem 100 gleiche Figuren zu viel sind, da die permanente Verwechslungsgefahr mit lebenden Exemplaren irgendwann eine Stresshormonüberdosis produziert, der mache sich auf nach Gateshead, wo nur ein einziges Exemplar einer Gormley-Skulptur steht: ein Engel. Der Engel des Nordens mit der Flügelspannweite eines Jumbos ist Gormleys berühmteste Figur.

Der Sinn des Regens. Mit Tarnen und Täuschen geht es auch 140 Kilometer nördlich weiter, in Rydal Hall, einem Herrenhaus in Kirchenbesitz mit angeschlossenem Garten und Wäldchen nahe Ambleside im Lake District. Im dichten Laubwald mit reichlich Farn und Moos, verwittertem Unterholz und bis zu 500 Jahre alten Kastanienbäumen wird man mir nichts dir nichts zum Kunstspürhund ausgebildet. Lektion eins: Nicht alles, was wie Moos aussieht, ist Moos. Es könnte sich um ein grünes Häkelobjekt der Textilkünstlerin Dianne Standen handeln.
Lektion zwei: Nicht jeder Stein in einem Filzobjekt ist ein echter Stein. Lektion drei: Nicht jede Blüte muss ohne Wasser den Kopf hängen lassen. Erleichtert aufatmen hört man die Kunstsuchenden und Naturgenießenden, sind sie endlich bei eindeutigen Objekten der Textilkünstlerin angelangt: zwischen Bäumen gespannten Filzkreisen, die neue Perspektiven eröffnen. Eingehäkelte CDs, die die Sonne reflektieren. Ein blauer Textilwasserfall, der die Nähe von zahlreichen tatsächlich rauschenden Wasserfällen und dem ältesten „viewing house“ (Aussichtswarte) des Landes aus dem Jahr 1669 anzeigt.
Niemand hat einem den Gefallen getan, „Achtung Kunst!“-Schilder bei den im Wald und Garten verstreuten Kunstwerken von Dianne Standen anzubringen. Das Schild muss man sich schon selbst vor sein geistiges Auge malen, aber am Ende der Kunstnatur-Tour ist man die Schildermalerei leid und hat die wichtigste Lektion gelernt: Es ist irrelevant, ob der vom Zufall kunstvolle arrangierte Holzstoß Kunst oder Natur ist. Die Natur ist Kunst. Und Kunst ist hier Natur.

Spätestens dann, wenn sich die sorgfältig an die Umgebung angepassten Wollobjekte durch die Feuchtigkeit mit den Bäumen und Steinen verfilzt haben und Schimmelsporen neue Kunstwerke hervorbringen. Der im April 2012 offiziell eröffnete Skulpturenpfad im weitläufigen Gelände von Rydal Hall, der auch Holz- und Eisenobjekte beherbergt, ist ein perfekter Weg, sich mit dem vielen Regen in der Region zu versöhnen. Entstanden ist der Pfad auf Initiative der Künstler selbst, die hier eine lange Tradition als Artists-in-Residence haben. Wobei sie nicht im prunkvollen Ambiente des Herrenhauses residieren, sondern in einer Künstlerjurte direkt an der berühmten „Coffin Route“ nach Grasmere, wohin einst die Särge getragen wurden, da hier der einzige Friedhof der Gegend war. Und auf diesem Weg erwartet einen die Abschlussprüfung der in Rydal Hall gelernten Kunst-oder-?-Lektionen: alte Baumstämme, gespickt mit Münzen. „Eine Kunst- und Geldinstallation?“, fragt sich ein Tourist. „Der Scherz eines Jurtenkünstlers“, meint ein anderer. „Wer eine Münze in den Baum steckt, wird reich werden. Ein Aberglaube der Gegend“, klärt ein Local auf und lässt eine Gruppe Touristen zurück, die kunstvoll ihre Münzen in den abgestorbenen Baumstamm drückt.  

Heikel. (Garten-)Künstler greifen zu Häkelnadeln aus verdichtetem, laminierten Holz in Rosenholzoptik von Knitpro. www.knitpro.eu

Leicht. Der Borsalino schützt vor Britanniens erbarmungsloser Sonne. Im Fachhandel, ca. 220 Euro.

Tödlich fürs Unkraut: Jätschlinge „Nunki“. Wird durch die Erde gezogen, kappt mit ihrer scharfen Klinge Unkrautwurzeln und lockert die Erde. Via www.kupferspuren.at

Pfleglich. Handwaschpaste mit Bimsstein aus der Pflegeserie „Gardeners“ von Crabtree & Evelyn, erhältlich im Shop, 1010 Wien, Kärntnerring 11-13.

Kunst-Natur-Park
Rydal Hall: Rydal, Cumbria LA22 9LX, +44/153 94 320 50 www.rydallhall.org

Schlafen: Eco Pods, „Holzzelte“ in Rydal Hall, die regenfeste Variante eines Zeltes. www.rydalhall.org/stay-rydal-hall/eco-pods/

Essen und trinken im Lake District: „Kirkstile Inn“, Loweswater mit hauseigener Brauerei. „Zefferelli’s“, Ambleside, vegetarische Pizzeria mit Livejazz und Kino. „Jumping Jenny’s“, Kaffeehaus in Brantwood, dem Haus des Philosophen John Ruskin in Coniston. In Liverpool: „Alma de Cuba“ edle, karibische Bar in der ehemaligen katholischen Kirche St. Peter’s mit viel Gold, Marmorsäulen, großen Heiligenbildern und reichlich Kerzen; Seel Street, www.alma-de-cuba.com).

Schlafen in Liverpool: PodZzz@Parr Street, 33-45 Parr Street, Stadtzentrum, L1 4JN. Farbenfrohe, futuristische Unterkünfte in den Liverpooler Parr Street Studios, inkl. Aufnahmestudio. Alle Räume schallisoliert.

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