Chios: Retro-Charme dank Wirtschaftskrise

Chios
Chios(c) EPA (Orestis Panagiotou)
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Glasklares Meer, duftender Mastix, heimelige Tavernen und karge Dörfer aus Stein: Erstmals fliegt Austrian Airlines die griechische Insel an der türkischen Küste direkt an.

Der Bauer pflegt seine Pflanzen, ein Arbeitertrupp rodet einen Wegesrand, und gleich nebenan lassen sich die Urlauber, ahnungslos von Land und Leuten, im All-inclusive-Resort verwöhnen? Nicht in Chios. Natürlich, in Arbeit soll es nicht wirklich ausarten, was hier unter sanftem Tourismus möglich ist. Und klar, ein Muss ist es sowieso nicht, Vassilis Ballas bei der Ernte des wertvollen Mastixharzes zu helfen oder mit Georgios Chalatsis uralte Pfade quer über die Insel wiederzubeleben. Die 53.000-Einwohner-Insel bietet sogar sehr viel an ungestörter Ruhe in den stillen Bergdörfern oder kleinen Buchten. Doch wer möchte, der darf die Insel erkunden im Sinn dessen, was Tourismus eigentlich bedeutet: das Land kennen lernen, die Leute. Den kargen Norden, den üppigen Süden, die Originale, die Geschichte und die neuen Ideen.

Tagträumen

In der „Fabrika“ etwa, in Volisos, kann man die Küchenschätze studieren: Griechischen Salat, Gefüllte Weinblätter, Zicklein, Lamm, Huhn, Kräuterpuffer, Käse, Bohnen mit Dill, Käsetaschen, Kartoffelpürree-Puffer. Rotwein, Weißwein, Ouzo, Feigenschnaps, Schnaps mit Mastix. Kuchen, Espresso, Pudding mit Rosenblüten, Früchte in Sirup, Mousse au Chocolat. Und für den Gast, der sonst nichts mehr schafft, ein wenig Obst mit Zimt.

Und wer später, nach dem Essen, ins Auto steigt und weiterfährt, in den nächsten Ort oder zum Unesco-Weltkulturerbe Nea Moni, einem im elften Jahrhundert erbauten ehemaligen Kloster mitten in den Bergen mit bewegter Geschichte, und wer dann im Sonnenuntergang seinen Gedanken nachhängt, könnte sich vorstellen, dass es sich damals so angefühlt haben muss – als man noch im Auto in den Süden fuhr, in einer Taverne am Familientisch saß und Ansichtskarten mit „Nur Sonne, Meer & Moussaka!“ nach Hause schrieb, ohne dabei im Entferntesten an Hautkrankheiten, Klimawandel und Massentierhaltung zu denken. Als gutes Essen und Trinken, schönes Wetter und freundliche Unterkunft für einen gelungenen Urlaub genügten, ganz ohne All-inclusive, Animation, Halligalli oder Burn-out-Prophylaxe-Programme. Es könnte sein, dass der späte Aufbruch in den Tourismus nicht nur die Wickie-Slime-and-Paiper-Generation zum Tagträumen bringt.

Einkehren

Eine Insel der Retro-Seligen ist das 53.000-Einwohner-Eiland aber nicht. Neben Familien- gibt es längst auch Internetanschluss, und die Wirtschaftskrise zeigt ihre Auswirkungen – unter anderem jene, mehr Tourismus anzustreben. In Massentourismus wie an der gegenüberliegen türkischen Küste soll die Sache mit den Gästen aber nicht ausarten. Derzeit stehen rund 6000 Fremdenbetten für die Besucher zu Verfügung, die meisten davon im Süden der Insel und in Chios-Stadt. In der Region Karfas bieten klassische Hotels schönen Zugang zum Meer, in der Region Kambos logiert man zwischen blühenden Orangen- und Zitronenhainen in alten Herrenhäusern, von deren großer Zeit das „Citrus-Museum“ samt Marmelademanufaktur und -Shop süße Eindrücke vermittelt. Die Unterkünfte reichen von gemütlich-familiär bis feudal. Im „Argentikon“ etwa sollen schon Filmstars geurlaubt haben, mit eigener Garten- und Parkanlage, Well- und Fitnessgebäude, Pool natürlich und vor allem einer großen Mauer um das Refugium herum. Ein eigenes Gebäude steht für kleinere Gesellschaften zur Verfügung – damit die Privatsphäre im Haupthaus gewahrt bleiben kann.

Privatsphäre ist auch für Smaragda wichtig. Davon hat die über 70-jährige Dame allerdings oft mehr als genug. Denn sie ist die einzige Bewohnerin des Bergdorfes Anavatos in der Inselmitte. Im Frühling und Herbst und vor allem im Winter ist hier wenig los, dann leisten Smaragda vier Hunde, zehn Hühner und eine Katze Gesellschaft in dem verfallenen Dorf. Nur im Sommer hat die Taverne nebenan geöffnet. Die Saison beginnt in Chios Mitte Mai, wenn Sturm und Regen der Sonne weichen – und dauert bis Oktober. Anavatos wurde auf einem schroffen Felsen erbaut, um Schutz vor den Piraten zu bieten. Genützt hat es nicht immer, im Schicksalsjahr 1821 wurden beim „Massaker von Chios“ auch hier tausende Menschen ermordet. Damals wurde der Aufstand gegen die türkische Herrschaft geprobt, die sich entschieden rächte. 1881 zerstörte ein starkes Erdbeben zahlreiche Gebäude der Insel. Manche Ruinen stehen heute noch.

Nachtwandern

Zeitlos schlicht, aber unvergleichlich besser in Schuss präsentieren sich andere Dörfer der Region, etwa Avghonima, in dem einige Zimmer in Steinhäusern zu mieten sind – etwa beim Orchideenliebhaber Georgios Misetzis, mit Frühstück in der Taverne quer über den Platz. Er zeigt Interessierten auch gern die versteckten Standorte der wilden Orchideen. Ein wenig nördlicher bietet Antigoni Maistrali Appartements am Hafen von Volisos an, unweit des Strandes – mit Blick über die Westküste der Insel.

In der Gegend ist auch richtig, wer die alten, aus türkischer, mitunter genuesischer Zeit, zum Teil gepflasterten Wege bewandern will – wenn schon nicht herrichten, was Georgios Chalatsis zu seiner Mission gemacht hat. Gemeinsam mit Freunden sind schon einige Wanderrouten entstanden, samt genauem Kartenmaterial. In Zukunft soll man, ähnlich wie in den Alpen, von Hütte zu Hütte, von Bergdorf zu Bergdorf wandern können. Oder, im heißen Sommer, nachts beim vollen Mond. Oder mit einer Badebucht auf dem Weg.

Eintauchen

Ja, die Strände: Rund um die Insel gibt es zahlreiche Möglichkeiten für ein erfrischendes Bad im Meer. Sogar direkt in der Hauptstadt laden einige Uferstreifen zum Baden ein. Sandstrände wie in Karfas gibt es wenige, dafür rauscht an den Kiesstränden wie im südlichen Emporios Bay ein glasklares Meer ans steinige Ufer. Laut Hôtelière Giouli Kampas vom Emporios Bay Hotel sollen hier auch in Kürze Kletterrouten im griffigen Fels nebenan entstehen, direkt am Meer.

Nicht weit davon entfernt, in Pirghi, Mesta und Olimbi, kann man in die Kultur des Mastix eintauchen. Diese Pinienart wächst zwar auch anderswo, aber nur hier produziert sie das begehrte Harz, das in zähen Tropfen den Sommer über aus den Schnitten rinnt. Händisch gesammelt und gereinigt, werden so rund 120 Tonnen pro Jahr produziert. Genutzt wird das antiseptisch wirkende Pulver in Lebensmitteln von Süßspeisen bis zu Schnaps, aber auch in Rheumamitteln, in Kosmetika und für Speziallacke. Jedermanns Geschmack ist es nicht, aber nicht nur in Chios-Stadt und dem Athener Flughafen, auch in New York gibt es eine Filiale des Mastix-Shops. Den Orten selbst sieht man ihre reiche Vergangenheit – im Mittelalter wurde das Harz mit Silber aufgewogen – durchaus an: Pirghi beeindruckt mit geometrischem Kratzputz in Grau-Weiß und Mesta versetzt die Besucher mit seinen mittelalterlichen Mauern sowieso wieder ins Träumen...

Schlafen, essen, wandern und botanisieren auf Chios

Anreise: Direktflug mit Austrian ab Schwechat (jeweils Mittwoch), oder mit der Fähre von Athen oder Thessaloniki. www.austrian.com

Wandern:Giorgos Chalatsis gchalatsis2@gmail.com

Mastix: „Masticulture“, Vassilis Ballas, Roula Boura, www.masticulture.com

Unterkunft & Verpflegung
Avghonima: Spitakia, bei Orchideenexperte Jiorgos Misetzis
www.spitakia.gr

Taverne Pyrgos: www.chiospyrgosrooms.gr

Volisos/Umgebung:
Volisos Holiday Homes, www.volissosholidayhomes.gr

Fabrika, www.fabrika.com

Süden/Kambos:
Emporios Bay Hotel
www.emporiosbay.com

Mavrokordatiko
www.mavrokordatiko.com

Mouzaliko
www.mouzalikohotel.gr

Argentikon Luxury Suites
www.argentikon.gr

Riziko
www.chios-riziko.gr

Info: Die Kosten der Reise trugen das Griechische Fremdenverkehrsamt und Austrian.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.06.2013)

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