Olympische Spiele der Schneeschaufler

Cortina. Der Austragungsort der Olympischen Winterspiele 1956 stöhnt unter Schneemassen.

Krr-krr-krr. Schon im Morgengrauen kratzen die Schaufeln über den Asphalt. Dicke Flocken fallen vom Himmel über Cortina d'Ampezzo, seit Wochen schneit es in den Dolomiten. Die Rauchfänge sind unter der weißen Last verschwunden. Schnee ist eine Naturgewalt. In dieser Saison wird das besonders deutlich. In Sotschi fehlte er. Auch an der Alpennordseite stehen manche Skilifte still. Cortina d'Ampezzo dagegen, Austragungsort der Olympischen Winterspiele 1956, hatte im Februar zwischen fünf und zehn Meter Neuschnee, auf den Gebirgspässen liegt doppelt so viel.

„Ein Jahrhundertwinter“, sagt Agostino Magro. Der Besitzer der Bar Stazione kann sich gut an die 1960er-Jahre erinnern. An der Wand des mit Jugendstilfresken geschmückten Lokals hängen Fotos vom Winter 1950. Damals führten in den Schnee gegrabene Tunnel zu den Eisenbahnwaggons auf dem Bahnhof. Auch heute türmen sich davor riesige Schneemengen. „Man könnte olympische Wettkämpfe darauf veranstalten“, spotten die Einheimischen in der Bar. Im Self-Service-Restaurant sitzen verschwitzte Alpini-Soldaten, die Dächer vom Schnee befreien, und schaufeln Maccheroni alla Bolognese. „Ja, wir hatten Probleme“, sagt Maria Grazia Soravia vom lokalen Tourismusamt. „Mehrere Tage hatte Cortina keinen Strom, einige Touristen, die es ohne Internet nicht mehr aushielten, sind deswegen abgereist.“ Die meisten Skilifte hätten ihren Betrieb aber längst wieder aufgenommen, Freerider fänden jetzt Bedingungen vor wie in Kanada.

Wenn die Sonne durch die Wolkendecke bricht und die Dolomitengipfel aufleuchten, wirkt das tief verschneite Cortina wie der perfekte Wintersportort. Kinder sausen auf ihren Rodeln die Hänge hinab, auf denen die gut abgeschirmten Villen von Unternehmerfamilien wie den Agnellis, Barillas oder Benettons stehen. Dick vermummte Rentner tragen ihre Einkaufstüten den von exklusiven Geschäften gesäumten Corso Italia entlang.

Doch oben am Giaupass entsteht der Eindruck, dass die Einnahmen aus dem Tourismus nicht ausreichen, um die Sportangebote der Region zu erhalten. Westlich des Wildbaches Boite rottet die Bobbahn von 1956 vor sich hin. Über dem Ortsteil Zuel erhebt sich die Olympia-Sprungschanze – auch dieses kühne Bauwerk ist dem Verfall preisgegeben. Meterhohe Schneewände flankieren die Straße wie ein überdimensionaler Eiskanal. Nur wenige Autos sind unterwegs. Dafür springt in einer Kurve eine Gämse über die Straße und klettert panisch über den Schneewall.

Zweitwohnungen statt Hotels

„Ihr seid die ersten Gäste seit 14 Tagen“, sagt Hüttenwirt Igor Valleferro auf dem 2236 Meter hohen Giaupass. Abseits des schmalen Tunnels, der zum Haus führt, bedeutet hier jeder Schritt durch den Schnee eine Strapaze. Um seinen größten Schatzzu zeigen, die unberührte Natur, bittet Valleferro auf die Terrasse, wo er bis zum Bauch im Schnee versinkt.

„Das dort unten ist Cortina“, sagt Valleferro und weist auf einen grauweißen Klecks. Laut Valleferro treten sich an manchen Tagen 50.000 Wintergäste im Ort auf die Füße – er aber komme mit seiner Hütte kaum über die Runden. Schuld sei die Politik. Denn statt in die touristische Infrastruktur zu investieren – etwa durch eine Pistenverbindung zwischen Cortina und dem Giaupass –, sei jahrzehntelang die Bauspekulation gefördert worden. „Heute gibt es 5000 Hotelbetten und 30.000 Betten in Zweitwohnungen – bei Preisen von bis zu 30.000 Euro pro Quadratmeter“, sagt Valleferro. Es müsse endlich angegangen werden, was nach den Olympischen Spielen versäumt wurde. Heute sei Cortina d'Ampezzo nur wieder eine Skiregion unter vielen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.03.2014)

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