Zeit für die Sommerpersönlichkeit

Daenemark, Kopenhagen, Nyhavn
Daenemark, Kopenhagen, Nyhavn(c) BilderBox
  • Drucken

Ans Wasser radeln, in der Sonne sitzen, auf dem Wasser durch die Kanäle paddeln und vegane Volksküche genießen: Begegnungen vor dem European Song Contest 2014.

Nach den langen, grauen Wintermonaten blühen die Kopenhagener auf, drängen ans Licht, in ihre vielen Parks, auf die Promenaden an den Kanälen, an die Strände. Die Hotels sind voll, Straßen und Plätze dito. Auf den extrabreiten Radwegen stauen sich Lastenräder, Retrobikes, Renngeschosse, Designervelos, Liegeräder und ausgefallene Eigenkreationen auf zwei Rädern. Wer stehen bleibt, wird schon mal weggeklingelt. Kopenhagen ist die Fahrradhauptstadt der Welt – im Großraum Kopenhagen benutzen 59 Prozent der Beschäftigen, Schüler und Studenten Fahrräder für ihre Wege. Bis 2025 will Dänemarks Metropole erste CO2-neutrale Hauptstadt der Welt sein.

„Jetzt im Sommer leben wir draußen. Da sind wir ganz andere Menschen“, sagt Kris auf einer Kajaktour durch die Kanäle Kopenhagens. „Wir Dänen“, meint der Trainer und Tourguide, „haben eine Winter- und eine Sommerpersönlichkeit. Im Winter schließen wir uns zu Hause ein und haben den høge.“ Das ist der dänische Winterblues.

Kaum kehrt das Licht zurück, drängt es die Kopenhagener nach draußen. Kris trifft dann Leute, die er das restliche Jahr über nie sieht: die „Sommerfreunde“. Überall haben Cafés und Restaurants ihre Sessel auf die kopfsteingepflasterten Gassen und Uferkais gestellt. Viele Wirte lassen Pontons als schwimmende Terrassen zu Wasser, auf denen man unter großen Sonnenschirmen sitzt. Junge Leute machen es sich auf den Kaimauern bequem. Wenn es zu heiß wird, lässt man sich ins Wasser fallen. Vor 20 Jahren war das streng verboten. Damals flossen Abwässer in die Kanäle. Heute schwimmen hier wieder Fische. Kopenhagen lebt wieder am und im Wasser.

Hintern mit 200 Kilo

Kris, einer der Guides des Kajakvermieters und Tourenanbieters Kajak Republic, hält das Boot fest und erklärt das Einsteigen: Mit einer Hand hinten den Rand des Einstiegslochs festhalten, die andere Hand am Steg, die Beine rein und dann den Hintern. Das schmale Kajak wackelt und schwankt. Dabei schlagen hier am Börsenkai in der Altstadt von Kopenhagen nur mit Touristen beladene Ausflugsboote Wellen.

Die Angst vorm Umkippen verjagt Kris mit beruhigenden Worten: „Das Boot wird dich ausspucken. Außerdem“, verspricht er, „bin ich immer neben dir und kann dich herausziehen.“ Auf den ersten Metern im Kanal schaukelt das Kajak bedrohlich. „Zieh das Paddel langsam und gleichmäßig auf jeder Seite durchs Wasser und versuche nicht ständig, die Schwankungen des Boots auszugleichen.“ Das hilft tatsächlich. „Stell dir vor, dein Hintern wiegt 200 Kilo und drückt dich fest ins Kajak.“ Gute Idee: Der Glaube versetzt nicht nur Berge, er kann Boote im Gleichgewicht halten.

So gleiten wir dahin, passieren Schatten spendende Brücken und queren den großen Kanal, der uns noch von einem großen grauen Kasten mit weit hervorstehendem Dach trennt. „Wir warten, bis das große Boot da vorbei ist, dann fahren wir direkt rüber“, erklärt Kris.

Neue Oper, die alte, backsteinerne Börse mit ihren zu Spiralen gemauerten Türmchen und die bei reichen Boots- und Jachtbesitzern beliebten Kanäle und Kanälchen von Christianshavn. Zu sehen gibt es nicht nur vom Wasser aus eine Menge. Immer wieder zeigt Kris die vielen Bauwunden, die Banken und andere Investoren in der Stadt geschlagen haben. Alte Speicherhäuser ließen sie für moderne Glaskästen abreißen. Doch manche der hypermodernen Bauten lobt sogar er: Der alte Backsteinbau der königlichen Bibliothek hat einen schwarzen Diamanten zur Seite gestellt bekommen. So nennen die Einheimischen den schräg gestellten, rund 15 Stockwerke hohen Würfel, der aussieht, als würde er gleich ins Wasser kippen.

Vor dem Runden Turm, von dessen Plattform Touristen die ganze Stadt überblicken, steht die erste Biowürstchenbude der Stadt. Tofuwurst, Kartoffelpüree, Senfsauce, alles aus Ökolandbau, serviert auf dünnen, recycelbaren Papptellern. „Aushilfe dringend gesucht“, heißt es auf einem handgeschriebenen Schild an der Scheibe der Imbissbude.

Direkt gegenüber sitzt ein freundlicher Bettler. „Suche dringend Arbeit, egal was“, hat er auf den Pappkarton vor sich geschrieben. Mein Versuch, die beiden zusammenzubringen, will nicht gelingen. „Ich sag's dem Chef“, murmelt der Imbissverkäufer und der Bettler meint resigniert: „Die erwarten bestimmt, dass ich Dänisch kann.“ Der Mann, freundlich lächelnd und angesichts seines Lebens auf der Straße erstaunlich sauber und gepflegt, spricht gut Englisch. Er stammt aus Moldau. Die meisten Passanten beachten ihn nicht.

Distanzierte Dänen

„Die Leute hier sind sehr zurückhaltend“, sagen viele, die es auf den unterschiedlichsten Wegen nach Kopenhagen verschlagen hat. Kajaklehrer Kris bittet um Verständnis: Im Sommer sei Kopenhagen so überlaufen, dass manch Einheimischer die Geduld verlöre.

Am Stadtrand macht ein Berliner Station, der als Ein-Mann-Zirkus durch Europa zieht. In den Parks großer Städte baut er seine Manege auf. Die Kopenhagener beobachteten seine Auftritte wohlwollend, aber sehr distanziert. Kaum jemand spreche auf sein Programm an. Sein Wohnmobil mit dem großen Anhänger für die Manege hat Alexander am Rande des Freistaats Christiania geparkt. 1971 besetzten junge Leute das ehemalige Marinegelände, um hier ihren Traum vom selbstbestimmten Leben in einer autonomen Gemeinschaft zu verwirklichen. Immer wieder wollten Stadt und dänische Regierungen das Gelände räumen lassen. Schließlich durften die Besetzer bleiben.

Inzwischen haben die Christianier eine Stiftung gegründet, die einen Großteil des Geländes gekauft hat. Die Mitglieder der Gemeinschaft verdienen ihr Geld in eigenen Betrieben, in der Stadt oder als Touristenführer. 200 Jobs bieten allein die Läden, Cafés und Kneipen in dem Freistaat, darunter eine berühmte Fahrradmanufaktur, die auch Lastenfahrräder produziert, das Gesundheitshaus mit Arztpraxis und Apotheke oder die von zwei Frauen geführte Kunstschmiede.

Pusher Street

Nach dem Freizeitpark Tivoli, einem Wurstelprater mitten in der City, ist die autonome Gemeinschaft mit ihren bunten selbst gebauten Häusern, den alternativen Läden, Künstlerateliers, Werkstätten und Cafés der wichtigste Touristenmagnet in Kopenhagen. Viele kommen zum Kiffen. In der Pusher Street, der Hauptstraße, duftet es nach Cannabis, verkaufen Dealer ganz offen Hasch und Gras.

Mario Zorosco sitzt mit einem Freund auf der Veranda seines orange-bunten Hauses beim Essen. In einem Ständer auf der Treppe zur Terrasse leuchten bunte Postkarten: gelbe Sonnen, Motive aus Christiania und abstrakte Bilder. Es sind Verkleinerungen seiner vielen Ölbilder: Ansichten der Stadt, Häuser, die sich unter einem blauen Himmel mit riesigen Sternen im Wasser spiegeln, Landschaften und bizarre Figuren, die an Dalí erinnern. Seit mehr als 30 Jahren lebt er in Christiania. Hier habe er die Chance bekommen, er selbst zu sein, „mit all meinen Verrücktheiten“. Die Gesellschaft habe all die Jahre versucht, die Christiania-Bewohner zu normalisieren. „Schließlich“, sagt Mario lächelnd, „sind die meisten von uns normal geworden, aber zu unseren eigenen Bedingungen.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.04.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.