Lagunenstadt Venedig: Der vergessene Archipel

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Warum nicht mal in die Lagune? 120 kleinere Inseln liegen rund um die Lagunenstadt Venedig. Mit dem Kajak unterwegs in dieser stillen, amphibischen Welt abseits der Touristenheere.

So richtig entspannen kann man sich auf dieser Sightseeingtour nicht. Auch die Bedürfnisse des Bildungsreisenden werden kaum gestillt. Trotzdem behauptet René Seindal weiterhin felsenfest, dass die Lagunenstadt ein Traumziel sei. „Überreich an Kunstschätzen“, sagt er, „und wunderbar, ja geradezu märchenhaft schön.“ Dem Urteil des 42-jährigen Historikers aus Kopenhagen schließt sich wohl jeder gerne an.

Doch wo wir uns gerade befinden, ist es marginal romantisch. Wir dümpeln im Canale di San Nicolo am Lido von Venedig. Modergeruch umfängt uns, an der steilen Ufermauer kleben Styroporreste und ein ausgelatschter, wettergebleichter Turnschuh. Gegenüber liegt Sant' Erasmo, ein grünes, vier Kilometer langes Eiland, auf dem die Locals auf klapprigen Fahrrädern und in Gummistiefeln in ihren Gemüsegärten nach dem Rechten sehen. Weiter links, hinter San Servolo, wo früher eine psychiatrische Anstalt stand und heute die Venice International University ihren Sitz hat, schimmern die Kupferdächer der Giudecca im dunstigen Blau.

René hatte uns ein vier Meter langes Tourenkajak aus Kunststoff und ein federleichtes Karbonpaddel überantwortet. „Damit ihr nicht so schnell ermüdet.“ Außerdem Spritzdecke und Schwimmweste. Vorkenntnisse verlangt er keine, nur ein wenig Vorsicht. Über eine Art Hühnerleiter klettern wir in die moosgrüne Fahrrinne hinunter. „Die Vorrichtung“, grinst der Guide, „könnte ein wenig bequemer sein. Sie ist noch ziemlich primitiv.“ Okay, verstanden – wir gehören zu Renés ersten Kunden.

Geheimnisvoller Kosmos

In Dänemark werkte Seindal nach dem Studium bei einer großen Computerfirma. Seit dem vorigen Sommer, als er im Urlaub mit einem kanubegeisterten Freund die Lagune erkundete, bietet der 42-Jährige rund um Venedig geführte Kajaktouren an. „In diesem geheimnisvollen Kosmos, der permanent neu entsteht, gibt es für mich noch viel zu entdecken“, sagt der Däne, der mit seinem struppigen Zweiwochenbart und den Holzfällerschultern schwer in einem klimatisierten Büro vorstellbar ist. Seindal schaltet das GPS-Gerät ein, das er mit Klettverschluss vorne über einem wasserdichten Beutel für die Dokumente befestigt hat. Dann paddelt er mit sparsamen, konzentrierten Schlägen los. Seine Kunden folgen ihm in kurzen Abständen, stets darauf bedacht, hart hinter der Bugwelle des Vordermanns zu bleiben. Unser Ziel ist die verlassene Insel Sant' Ariano. Das Wasser des Canale di San Nicolo ist ruhig, wir haben bald unseren Rhythmus gefunden und können jetzt auch die vielen Bauwerke entlang der Wasserstraße beachten, auf die uns der Kanuführer aufmerksam macht.

Wir passieren die Insel San Andrea, auf der eine imposante Festung des Veroneser Militärarchitekten Michele Sanmicheli thront. Von dem einst kanonenbestückten Bau aus dem 16. Jahrhundert wurde der meerseitige Zugang zur Stadt überwacht. Doch im mächtigen Mauerwerk klaffen tiefe Risse. Ganze Gebäudeteile sind im Schlamm versunken oder wurden von den unermüdlich nagenden Wellen zerstört.

Ähnlich sieht La Certosa auf der anderen Kanalseite aus: im Mittelalter ein Kartäuser-Kloster, das in napoleonischer Zeit zum Munitionsdepot wurde. Mittlerweile regiert auf dem riesigen Gebäudekomplex der Verfall. Über zerborstenen Ziegelmauern wuchert ein undurchdringliches Dornengestrüpp. Aus den eingestürzten Dächern ragen üppige Baumkronen hervor. „Die Bewohner der Serenissima“, sagt René resigniert, „haben sich von ihren Ursprüngen entfernt.“ Und nur ein Bruchteil der jährlich etwa 25 Millionen Venedig-Touristen finde den Weg auf die etwa 100 kleineren Inseln, die sich wie eine Perlenkette um die berühmte Lagunenstadt legen.

Labyrinthische Amphibienwelt

„Heute ist diese Landschaft, die als das größte Feuchtbiotop der Halbinsel gilt, selbst vielen Einheimischen unbekannt.“ Dabei liege hier die Keimzelle Venedigs. Jahrhundertelang schlug das Herz der Serenissima hier, in der labyrinthisch verschlungenen Amphibienwelt der Lagune. Während wir laut GPS mit moderaten 3,4 Stundenkilometern weiterpaddeln, erzählt René, dass die Stadt vor etwa 160 Jahren mit der Eisenbahnbrücke die Anbindung ans Festland erhielt. Damals begann das langsame Dahindämmern des Archipels, der für die Venezianer Sicherheitskordon, Vorratskammer, Wohnzimmer und Hauptverkehrsstraße in einem war. Gleichzeitig verwandelte sich San Marco, einst das ökonomische Zentrum Venedigs, in eine Bühne für die Touristenscharen.

Die Sonne steht jetzt hoch am Himmel, doch nahe am Porto di Lido, wo vom Meer eine frische Brise herüberweht, spürt man die aufkommende Hitze kaum. Nach gut einer Stunde gabelt sich die Wasserstraße. Sogenannte Briccole, mannsdicke Eichenpfähle, weisen den Bootsleuten den richtigen Weg. Wir biegen nach links ab und erreichen die Palude della Centrega, den nördlichen Teil der etwa 500 Quadratkilometer großen Lagune. Im Delta der Flüsse Sila und Piave entstanden, bilden die Palude (Sümpfe) ein Geflecht von schmalen Kanälen und Prielen. Hier dürfen keine Motorboote mehr fahren, es gibt keine Markierungen, selbst Renés GPS versagt seine Dienste. Denn wo gestern noch eine brauchbare Passage war, kann heute eine Sandbank sein. Wenn wir Pech haben, müssen wir das 25 Kilogramm schwere Boot auf die Schultern nehmen und durch den Schlamm stapfen. Dafür haben in dieser geschützten Weite des Marschlandes zahlreiche Reiher, Wattvögel und andere Vogelarten ihr Refugium. Es ist eine friedliche, menschenleere Welt, in der der Gezeitenwechsel den Rhythmus vorgibt.

An diesem späten Vormittag ist Ebbe. Seegraswiesen und nackte Sandstreifen liegen trocken. Ein Stelzenläufer stochert mit seinem spitzen Schnabel im Schlick. Silbermöwen segeln im Gleitflug über das Feuchtgebiet, auf einer nahen Insel linst ein Graureiher nach Beute. Das Rinnsal, das wir entlangpaddeln, wird immer seichter.

Links und rechts ein breiter Schilfgürtel, darin Brutplätze der Wasservögel. Vor uns schießen silbrige Fische davon. Ab und zu springt einer nach einem Insekt, doch bald glättet sich die Wasseroberfläche wieder und darin spiegelt sich der Himmel. Unsere gemächliche Fortbewegungsart passt perfekt zu dieser meditativen Landschaft. Fast lautlos gleiten unsere Kajaks dahin. Nur das rhythmische Klatschen beim Eintauchen der Paddel begleitet uns, kein menschlicher Laut durchbricht die beinahe vollkommene Stille.

Orte der Vergänglichkeit

Nach 13 Kilometern ist Sant'Ariano erreicht. Zeit für eine Pause. Das etwa fußballfeldgroße Inselchen wurde von den Lagunenbewohnern früher als Beinhaus verwendet. Auf alten Ansichten ist noch ein langes mauerumgürtetes Gebäude, überragt von einer großen Kirche, zu erkennen. Aus der dschungelhaften Vegetation, die die Insel heute überwuchert, ragt nur noch eine Kapelle heraus. Ein Pfad führt zum Gotteshaus. Die Stätte ist völlig verwahrlost, die rostige, aus den Angeln gekippte Eisenpforte liegt quer zum Eingang. Im Inneren gähnende Leere, der einst himmelblaue Verputz liegt auf dem Boden, es riecht nach Schimmel. Bald verlassen wir diesen Ort, der an die Vergänglichkeit mahnt, und treten die Rückfahrt an.

Vor der Punta Sabbioni, wo die Schleusen des umstrittenen Megaprojektes „Mose“ zum Schutz vor Überschwemmungen errichtet werden, herrscht wieder reger Betrieb. Ausflügler röhren auf Motorbooten vorbei. Angler haben ihre Barken der Reihe nach an den Briccole festgemacht und blicken versonnen aufs Wasser. Männer und Frauen mit Plastikkübeln stiefeln durch den Schlick: Sie suchen nach Muscheln, die im nährstoffreichen Mix aus Süß- und Salzwasser ideale Wachstumsbedingungen finden.

Von Treporti nähert sich ein Kreuzfahrtschiff. Musik dröhnt aus den Außenlautsprechern, an der Reling bilden sich Menschentrauben. Die Passagiere haben die winzigen Kanus entdeckt, viele fotografieren oder winken uns zu. Unsere Kajaks tanzen wie Korken auf der Bugwelle. Volle Konzentration also. Trotzdem fühlt man sich mit 27,6 Paddelkilometern in den Gliedern mächtig überlegen. Mit dem Kreuzfahrervolk möchten wir auf keinen Fall tauschen.

VON INSEL ZU INSEL

Kanutouren buchbar bei Venice Kajak. Halbtagestouren: 90 Euro p. P. für zwei bis fünf Gäste. Vier- bis fünfstündige Touren (ab 10.15 Uhr) nach Burano und Torcello 120 Euro p.P. Venice Kayak Srl, Via Servi di Maria, 41, 30173 Venezia, +39/346/477 1327. venicekayak.com
Wie man schnell und bequem nach Venedig kommt: siehe Seite R4

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.04.2014)

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