Flandern: Ein Bagger, eine Schildkröte und Bier für die Büßer

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Ein Casino mit einem Wandgemälde von René Magritte, ein fast 70 Kilometer langer Küstenabschnitt, der alle drei Jahre mit neuen Kunstobjekten befüllt wird, und gruselige Büßerprozessionen: Belgien einmal anders.

An der Strandpromenade von Middelkerke-Westende steht man plötzlich vor einem verblüffend filigranen Bagger, ohne dass eine Baustelle zu sehen wäre. Ein paar Kilometer weiter, in Nieuwpoort-Bad, hat sich eine Riesenschildkröte aus Bronze im Sand niedergelassen. Ja, was ist denn hier los?

Die belgische Küste, dieser 67Kilometer kurze Abschnitt zwischen De Panne und Knokke, wo René Magritte das berühmte Casino mit einem riesigen Wandgemälde geschmückt hat, ist zur Spielwiese der Künstler geworden. International erfolgreiche Vertreter wie der Belgier Wim Delvoye, dessen Bagger aus gotischen Architekturelementen gefertigt ist, und Jan Fabre mit seiner vom Fernweh erzählenden Schildkröte bereicherten die Küstenorte für das Kunstfestival „Beaufort“, das alle drei Jahre stattfindet, mit ihren künstlerischen Interventionen. Beaufort05,das nächste, geht von März bis September2015 über die Sandbühne. Zu den bisherigen Teilnehmern zählten ausschließlich Kapazunder, etwa Louise Bourgeois, Ilya Kabakov, Jannis Kounellis, Erwin Wurm, Daniel Buren oder John Baldessari. Viele der Objekte wurden von den Ausstellergemeinden angekauft und blieben an Ort und Stelle. In einer Gegend, die von der Sucht nach immer neuen Feriendomizilen geprägt zu sein scheint, würde man Kunst am allerwenigsten vermuten. Dabei hat die Küste schon früher Künstler angezogen. Der bekannteste ist James Ensor (1860–1949), der seine Heimatstadt Ostende so gut wie nie verlassen hat. „Ich liebe die Masken, und ich lebe aus dem Meer“, erklärte der Maler, der durch Bilder, in denen die Welt ein schriller Maskenball ist, berühmt wurde.

Schattiger Logenplatz

Im Ensor-Museum im Wohnhaus des Künstlers, scheint die Zeit eingefroren zu sein. Überrascht steht man vor Masken und Schädeln und staunt über jede Menge Nippes: Objekte, die man aus den Werken des Malers kennt. Originale von James Ensor sind im Kunstmuseum in Ostende zu sehen.

Wie in den „Wimmelbildern“ des Malers drängen sich die Sonnenhungrigen im Hochsommer an den Stränden. Im Künstlercafé „Beausite“ an der Promenade von Ostende hat man einen schattigen Logenplatz. Ein kurzer Spaziergang, vorbei an Fischmarkt und Fährenanleger, und man erreicht die Kathedrale des Seebads, in der das Licht, das Ensor so liebte, durch neue Glasfenster des deutschen Malers Norbert Schwontkowski scheint, die den Menschen auf seiner immerwährenden Wanderschaft zeigen.

Die Entdeckungsreise an der belgischen Küste kann man umweltfreundlich mit der Straßenbahn antreten, die alle Orte im schnellen Takt verbindet. So gelangt man auch nach St.Idesbald, wo der Surrealist Paul Delvaux (1897–1994) gelebt hat. Das Bauernhaus des Künstlers wurde zu einem Museum umgebaut, ohne seinen Charme zu verlieren. Wer sich in die scheinbar Träumen abgerungenen Bilder vertieft, in denen blutarme Damen und Eisenbahnen die Hauptrollen spielen, und anschließend im Garten einen Kaffee trinkt, glaubt sich weit entfernt vom Trubel des Strandlebens. Vor der Küste des kleinen Ortes haben die französischen Künstler Anne und Patrick Poirier den Grundriss der Kirche einer ehemaligen Abtei als Stahlkonstruktion in die Höhe gebaut. Folgt man der Straße von dort ins Landesinnere, entdeckt man bald rote Mönchsfiguren. Sie markieren den Ort, an dem die Zisterzienserabtei Unsere Liebe Frau in den Dünen lag. Ein Museum mit Ausgrabungsstätte informiert seit einigen Jahren über das Wirken der Mönche, mit denen die Besiedlung dieses Landstrichs vor rund 900Jahren begonnen hat.

Hier Büßer, dort Riesen

In den Seebädern sucht man die Zeugnisse der Historie meist vergeblich. Doch wer die nur wenigen Kilometer von St.Idesbald nach Veurne ins Hinterland zurücklegt, tritt eine Zeitreise an. Mit seiner prächtigen Altstadt, der gewaltigen Walburga-Kirche, die viel zu groß scheint für die kleine Stadt, und dem Marktplatz mit Prunk- und Profanbauten, in denen sich Café an Kneipe reiht, besitzt Veurne eines der schönsten Stadtbilder Belgiens. Wenn am letzten Sonntag im Juli in dunkle Kutten gehüllte Gestalten schwere Kreuze durch die Stadt schleppen, dann wird in Veurne Geschichte lebendig. Die Bußprozession geht auf die Zeit der spanischen Herrschaft im 17.Jahrhundert zurück und sollte vor der Pest schützen (27.Juli2014; boet processie.be/start.php?lang=de). Es gehört zur belgischen Lebensart, dass die Brasserie Christophe in Veurne der Prozession ein Bier gewidmet hat: Boeteling.

Wenduine an der Küste ist alljährlich Mitte Juli, heuer am 12. und 13., in der Hand von langen Lulatschen. Mehrere Meter hohe Figuren, die Reuzen, werden durch die Straßen getragen. Meist sind es Personen aus der Stadtgeschichte wie der grimmige Jan Turpijn, der nicht weniger als 10,6Meter misst. Sein Vorbild war im 15.Jahrhundert Bürgermeister von Nieuwpoort. Man begegnet Garnelenfischern und Metzgern, Mönchen und römischen Soldaten, der Dullen Griet oder dem Maler Pieter Breugel – alle überlebensgroß und unter erheblichem Aufwand von mehreren unter den Figuren versteckten Trägern fortbewegt. Bei dem Fest gibt es auch diverse Wettbewerbe, etwa Garnelenfangen und Garnelenschälen, weiters findet ein Kunst- und Trödelmarkt statt. Seit 2005 gehören diese traditionsreichen Umzüge zum Weltkulturerbe. Das gilt auch für die stolzen Stadttürme, die Belfriede von Veurne und Nieuwpoort, wo am Mittwochabend schweres Geläut Melodien anstimmt und das Stimmengewirr in den Cafés am Markt spürbar leiser wird. Der Reisende lernt: Glockenspieler gibt es nicht nur bei den „Sch'tis“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.05.2014)

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