Lettland: Totaldobźe, total gut, total offen

Nationalbibliothek Lettland
Nationalbibliothek Lettland(C) Franz Lerchenmüller
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Wie eine erstarrte, dunkle Welle liegt sie am anderen Ufer der Düna, die künftige neue Nationalbibliothek Lettlands.

Das „Lichtschloss“ symbolisiert das alte Märchen von einem Bauern, der einen gläsernen Berg hochritt und die Prinzessin eroberte, obwohl jeder ihn zuvor für verrückt erklärt hatte. Es ist die lettische Version von „Yes we can“, und die Krone auf dem Gipfel steht trotzig für das Recht auf Bildung und die Hoffnung auf eine helle, endlich glückliche Zukunft.

Über 20 Jahre wurde der Bau diskutiert, geplant und hochgezogen. Gerade zum richtigen Zeitpunkt wurde er fertig, im Jänner dieses Jahres, passend zur Einführung des Euro und dem Status als Kulturhauptstadt Europas neben dem schwedischen Umea. „Force Majeure“ heißt das Motto – die höhere Gewalt, als die die Kultur das Leben der Menschen gestaltet. Und dafür hat die Stadt trotz Geldmangels viel investiert. Bei der Eröffnung konnten die Letten ihre Lieblingsbücher abgeben, für ein 25 Meter hohes „Buchregal des Volkes“ im Foyer.

Weltstars in der Heimatstadt

Zahlreiche andere Projekte wurden geplant, mehr als 200 insgesamt. Weltstars wie Gidon Kremer oder Maris Janssons kommen für Konzerte in ihre Heimatstadt zurück. Wagners Oper „Rienzi“, die er in Riga zu komponieren begann, wurde aufgeführt, das Lichtfestival „Staro Riga“ verwandelt die Stadt in ein fantasievolles Farbenmeer (15.–18. 11.). Zum Welt-Chor-Festival, das an diesem Wochenende endet, reisten 20.000 Sänger aus aller Welt an. Und „Survival Kit 2014“ zeigt zeitgenössische Kunst in Hinterhöfen und Fabriken (4.–27. 9.).

Die Zeit des Stillstands scheint vorbei. Riga kommt wieder in Bewegung. Von 2008 bis 2010 erstickte die wirtschaftliche Krise fast das gesamte öffentliche Leben in Lettland. Firmen gingen pleite, Löhne sanken, 120.000 der zwei Millionen Letten suchten Arbeit im Ausland.

Doch jetzt wird wieder gebaut. Neue Cafés und Boutiquen machen auf. Auf den kleinen Ökomärkten, etwa in Kalnciema oder Bergs-Basar, verkaufen Firmengründer im Studentenalter selbst gemachtes Pesto, Lachspaté und Tiramisu. Und im Edelkaufhaus Stockmann sitzen die Verkäuferinnen nicht mehr gähnend herum, sondern beraten Paare in Barbourjacken, die ihren neuen Optimismus schon einmal mit einem Designerblüschen und ein paar Flaschen Schampus untermauern wollen.

Das Budget für das Kulturhauptstadtjahr von umgerechnet 24 Millionen Euro wurde 2011 verabschiedet – etwas knapp und etwas spät. Doch die Letten, die jemand einmal als das „einzige buddhistische Volk Europas“ bezeichnete, kennen für jede Situation das passende Mantra: „Bei uns klappt immer alles auf den letzten Moment“, heißt es. Und: „Für viel Geld kann man alles kaufen. Wenn weniger da ist, muss man den Kopf stärker anstrengen.“

Auch die alternative Kunstszene zeigt sich rege. Der Fabrikkomplex von VEF, wo Telefone, Radios und Bügeleisen für die ganze Sowjetunion hergestellt wurden, ist eines der neuen kreativen Quartiere, die während der Krise entstanden. Das Kunstcenter Totaldobźe, (Total gut) veranstaltet auf den verlassenen Etagen Jazzsessions, Poetry-Slams und Tangokurse. Gleich daneben betreiben Sabine Vekmane und Edgars Abele ihre Kunstgalerie Zimea. „Riga wird spannend“, sagt die 28-Jährige. „Man weiß gar nicht, wie man so viele interessante Veranstaltungen unter einen Hut kriegt.“

800 Jugendstilgebäude

Die Mehrzahl der Touristen spaziert aber weiterhin durch die Altstadt und bewundert dort die Gildehäuser. Vor allem aber „sammelt“ sie Jugendstilhäuser, mit den Augen und der Kamera. Ende des vorletzten Jahrhunderts erlebte Riga einen wirtschaftlichen Boom. Man baute, baute, baute – und dies im Stil der neuen Zeit: mit Nymphen, Lilien, Siegesgöttinnen und Pfauenfedern als Schmuck. Mehr als 800 Gebäude, 40 Prozent der Innenstadt, werden dem Jugendstil zugerechnet.

Jenseits der Düna, im Stadtteil Kipsala, wurde ein ganz anderer, ungewöhnlicher Bau noch rechtzeitig fertig: Das Memorial von Zanis Lipke wurde im Juli 2013 vom israelischen Präsidenten Schimon Peres eröffnet. Die Tür geht auf, in den langen, dunklen Gang dahinter fällt nur wenig Licht durch ein paar Ritzen. Dann gibt ein beleuchteter Schacht den Blick frei auf einen drei mal drei Meter großen, kahlen Keller. Auf einem Video erzählt Johanna Lipke, wie sie und ihr Mann Zanis von 1941 bis 1945 in einem solchen Raum jeweils zwischen acht und zwölf Menschen vor den Nazis versteckten. 56 Juden retteten sie so das Leben – von 70.000, die in Riga ermordet wurden. 25 Freunde waren eingeweiht und sorgten für Essen, über der Falltür stand als Vorsichtsmaßnahme eine Tonne mit stinkendem Müll. Geschaffen haben das Memorial zahlreiche Letten, die Geld und Arbeitskraft investierten. Erinnerung an Menschlichkeit ist ein Stück Kultur – auch dieses Projekt gehört zu Riga 2014.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.07.2014)

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