Alpen: Das Steigen der Lämmer

Jeden Juni marschieren Südtiroler Schafe über spektakuläre Gebirgspfade zu ihren Sommerweiden ins Nordtiroler Ötztal.

Heuer, sagt Alois Unterthurner, wären es gut 2000 Stück, die „ummigian“. Einige mehr als im Vorjahr, freut sich der hagere Endvierziger, der die Schafherden in den nächsten drei Monaten hüten wird. Die älteren Mutterschafe, „die Görren“, wie sie der Hirte nennt, werden dabei die Karawane anführen. „Sie haben ja den Marsch schön öfters mitgemacht, und da sie die Wege kennen, gehen sie den anderen als Leittiere voran.“

Alljährlich nach der Schneeschmelze wandern die Südtiroler Bergbauern mit ihren Schafherden zu den Sommerweiden ins Nordtiroler Ötztal. Auf diesem spektakulären Treck über ausgesetzte Gebirgspfade überqueren sie zwei hohe Pässe, reißende Bäche und unter dem 3600 Meter hohen Similaungipfel sogar einen Gletscher, den Niederjochferner, der freilich in letzter Zeit an Masse ziemlich eingebüßt hat. Erst im Herbst, wenn die Nachtfröste die Almweiden mit rötlichem Glanz überziehen, wird es auf denselben Wegen wieder zurück in die heimischen Ställe gehen. Und der Hirte Alois Unterthurner, dessen pechschwarzer Rauschebart ihm dann womöglich bis zum Nabel reicht, wird auch an jenem Tag diskret im Hintergrund Regie führen.

Berge als Brücken

Wie eine schwarz-weiße Lawine wälzen sich die Schafherden durch das Tisental in Richtung Niederjoch. Es ist eine Landschaft von herber Schönheit. Karge Hochebenen, bucklig und übersät von Felstrümmern. So weit das Auge reicht nur Steine. Dazwischen spärlicher Bewuchs: Flechten, Moose, kurzes, borstiges Wintergras, das zögernd einem zarten Flaum weicht. Über dem Hochplateau erheben sich schrundige Bergrücken, ganz oben die Gletscher, über die sich ein wolkenloser Juni-Himmel spannt.

Wenn die Sonne höher steigt, leuchtet die Fels- und Eisregion wie eine gigantische Theaterbühne in allen Nuancen von Rot, Weiß und Orange. Eine Hochgebirgsregion von grandioser Einsamkeit, die Assoziationen an Tibet weckt.

Mitten in der Nacht brechen die ersten auf. Denn gegangen wird wie immer in einzelnen, leicht überschaubaren Trupps. Je drei oder vier Treiber, unterstützt von flinken Bordercollies, tragen die Verantwortung über eine etwa 200-köpfige Schafherde. Den Anfang machen die mit den meisten Jungtieren: Die Lämmer sind nämlich die Schwächsten, und nicht alle werden durchhalten bis ganz zum Schluss. Nervöses Gebell und das „Hoi, Hoi“ der Treiber begleitet den Tross. Um fünf Uhr früh ähnelt das Waldstück oberhalb von Vernagt einem Hexenkessel: Die Schafe plärren, die Hunde kläffen und die Männer fluchen, wenn sie auf den rutschigen Steinplatten immer wieder das Gleichgewicht verlieren. Die bleiche Mondsichel und der hin- und herhuschende Schein der Stirnlampen werfen ein gespenstisches Licht auf die Szenerie.

Transhumanz nennen die Wissenschaftler diese älteste Form der Weidewirtschaft im Gebirge. Stolz erzählt Josef Götsch, der Obmann der Schnalstaler Schafzüchter, von einer vergilbten Urkunde, die er im Wandschrank seiner getäfelten Stube aufbewahre. „Der Vertrag, der unsere Weiderechte im Ötztal sichert, stammt aus dem Jahr 1415.“ Das Original liege heute im Tiroler Landesarchiv in Innsbruck. Auch die Aufteilung Tirols nach dem Ersten Weltkrieg hat an dieser Tradition nichts geändert. Noch immer gehören 5000 Hektar Almfläche jenseits der Staatsgrenze zum Besitz der Schnalstaler Bauern: Weil die Berge in dieser Welt eben nie unüberwindliche Hindernisse waren, sondern stets Brücken. Doch der alljährliche Gang über die Jöcher ist viel älter als alle Urkunden. Vor 5300 Jahren ist der Ötzi durch dasselbe Tisental zum 3200 Meter hohen Hauslabjoch hinaufgestiegen. Auch er im Frühsommer, und auch er ein Hirte.

Vom Niederjoch weht ein kühler Wind herunter. Noch wabern durch das Tisental düstere Morgennebel. Aber bald ist die anfängliche Nervosität verflogen, der lange Wurm hat die Waldgrenze passiert und mäandert zügig über geröllübersätes Gelände.

Holzstab, Schürze, Filzhut

Ab und zu kollern faustgroße Steine durch die vereisten Steilrinnen, ansonsten herrscht Stille ringsum. Nur die monotonen Rufe der Treiber und das Gebimmel der Glocken begleiten den Tross. „Jetzt haben es die Tiere eilig“, sagt Martin. „Denn hinter dem Niederjoch warten die Weideflächen und sie wissen einfach, wohin die Reise führt.“ Martin kommt aus einem idyllischen Dorf im Schnalstal, wie die anderen Treiber trägt der 22-Jährige einen langen Holzstab in der Hand, um den Bauch hat er eine blaue Schürze gebunden und seine Wangen beschattet ein Filzhut – Kennzeichen des echten Südtiroler Schafhirten.

Alois Unterthurner und Männer wie Martin, Josef Götsch und Elmar, ein älterer Treiber, der schon als Bub dabei war, spielen die Hauptrollen bei dem Zug über die Alpen. Denn unterwegs lauern viele Gefahren. Unter dem Niederjoch liegt oft noch Schnee in den schattigen Bergfalten. Drohende Abgründe, Steinschlag, reißende Wildbäche oder plötzliche Wetterumschwünge können das Hochgebirge schlagartig in eine tödliche Falle verwandeln. Die genaue Kenntnis der Wege und vor allem rasches Vorankommen sind da lebenswichtig.

Mit Schaudern erinnert sich Elmar an jenen Katastrophentag vor etlichen Jahren. „Die Herden befanden sich hoch oben unter der Similaunhütte, als binnen kürzester Zeit ein halber Meter Neuschnee fiel.“ Die Tiere wären dann weder vorwärts noch rückwärts weitergekommen. Lawinen seien abgegangen, viele Schafe erfroren, abgestürzt, in den Schneemassen erstickt. „80 verendete Schafe“, sagt Elmar „haben wir damals am Ende dieses traurigen Tages gezählt.

Im kraftraubenden Zickzack klettern die Herden mittlerweile zwischen bizarren Felsnadeln und senkrechten Schluchten höher. Tausende Hufe fräsen eine schmutzig gelbe Trittspur in die Schneerinnen. Noch eine steile Geländestufe, dann ein langes Firnfeld, und der erste Trupp hat die Similaunhütte erreicht – mit 3019 Metern der höchste Punkt auf dem Weg ins Niedertal. Es ist kurz vor acht, die hinter dem Similaungipfel aufgehende Sonne zaubert ein zartes Rot auf die Bergzacken.

Kraxn-Service

Während sich die erschöpften Tiere draußen vor der atemberaubenden Gletscherkulisse ausruhen, stärken sich die Treiber in der Hütte mit einem „Schnapsl“. Ein paar Lämmer, die den Strapazen nicht gewachsen waren, haben die Männer in ihren Kraxen hinaufgetragen. „Bestimmt nicht die schlechteste Art“, witzelt Elmar „um übers Gebirge zu reisen.“

Dann geht es zum Glück nur mehr bergab. 1300 Höhenmeter mühte sich die Karawane bis zur Passhöhe hinauf. Nun führt der Weg noch einmal 800 Höhenmeter über aufgeweichte Schneefelder und Geröllhalden bis zur Schäferhütte ins Niedertal. Kaum jemand sonst verirrt sich in die Einöde am Fuß der Ötztaler Dreitausender.

Und doch wird hier Alois Unterthurner drei lange Sommermonate allein leben. Seine Tage in der Almhütte beginnen früh. Um fünf wird er aufstehen und den ganzen Tag hinter den Tieren her sein, die über das unzugängliche Gebiet verstreut sind. Aber genau so sei es richtig, sagt er, um dann von seinem glücklichen Hirtenleben ohne Motorenlärm, Fernseher und stressgeplagte Mitmenschen zu schwärmen. „Die Niedertalalm ist unser Sommerparadies“, sagt er. Und nur der Winter werde ihn und seine Schützlinge daraus vertreiben können.

RAUF UND RUNTER

Schafübertrieb: voraussichtlich am 7. Juni, da wetterabhängig; für Termin beim TVB Schnalstal nachfragen. Gäste als Mitgeher sind willkommen, sofern sie die Arbeit der Treiber nicht stören. Die Similaunhütte ist an diesem Tag geöffnet, bietet aber keine Übernachtungsmöglichkeit.

TVB Schnalstal: T 0039/0473/679 148, www.schnalstal.it

Ötztal Tourismus: T 057 200; www.oetztal.com

Anreise: Das Schnalstal liegt im unteren Vinschgau (nahe Meran). Mit dem Auto von Norden über die Brennerautobahn, vom Westen über den Reschenpass. [Ötztal Tourismus]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.05.2008)

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