Unter Blindgängern

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Blind wandern. Wer sich beim Bergwandern nicht auf seine Augen verlassen kann, muss andere Sinne aktivieren – das Fichtelgebirge in Oberfranken eignet sich als reizvolles Trainingsgelände.

Ein diesiger Morgen im Fichtelgebirge. Der Schneeberg versteckt sich hinter dunklen Wolken. Doch da drüben am Abhang sind Menschen unterwegs. Ihre bunten Anoraks zeichnen sich durch die Nebelschwaden ab. Im Gänsemarsch bewegen sie sich vorwärts. Sehr langsam, fast wie in Zeitlupe. Einige haben einen Hund dabei. Andere strecken ihre Wanderstöcke seltsam nach vorn.

Als die Gruppe näher kommt, erkenne ich: Das sind gar keine Wanderstöcke. Die Leute sind blind. Das Verblüffendste: Auch der Bergführer, der an ihrer Spitze geht, tastet mit einem Blindenstock nach dem Weg. Horst Zinnert, ein stämmiger, kleiner Mann von Anfang 40, ist hier in Bayern aufgewachsen. Als er 15 Jahre alt war, starben seine Sehzellen plötzlich ab. Warum weiß niemand. „Ich dachte damals, das Leben sei zu Ende“, sagt Zinnert. Jetzt leitet er Bergtouren für Blinde. Die meisten Menschen erhalten 80 Prozent ihrer Eindrücke über das Sehen. Nur das restliche Fünftel entfällt auf Hören, Riechen und Tasten. Zinnert kann nicht sehen, ob er den nächsten Schritt auf den Feldweg setzt oder in einen Abgrund. „Wer sich nicht auf die Augen verlassen kann“, sagt der Bergführer, „lernt, seine übrigen Sinne zu nutzen.“ Das Fichtelgebirge ist nicht der Himalaja. Die Gipfel in der Gegend von Bischofsgrün sind gerade einmal 1000 Meter hoch. Doch in der Nacht hat es geschüttet, die Wege sind rutschig. Nur einer in der Gruppe ist nicht blind: Rolf, ein Pensionist mit Ohrring und Dreitagebart, macht die Nachhut und passt auf, dass niemand verloren geht.

Wie findet er nur den Weg?

Horst Zinnert gibt ein gemächliches Tempo vor. Von Zeit zu Zeit dreht er sich um und ruft seinen neun blinden Mitwanderern Anweisungen zu. „Rechts halten!“ oder „Hier vorn kommt eine Brücke!“ Wie findet er nur den Weg? Und wie mag sich das anfühlen: Blindwandern? Wer keinen Blindenhund an seiner Seite hat, bewegt die Spitze seines Blindenstocks in einem Halbkreis vor sich her und tippt abwechselnd links und rechts an den Rand des Wegs. Immer steiler führt der Schotterweg bergab. Horst geht mit gebeugten Knien wie ein Skifahrer auf einer Buckelpiste. Nach etwa 500Metern bremst er ab. Und als Rolf von hinten bestätigt, dass die Gruppe vollzählig sei, biegt der Bergführer scharf nach rechts in einen Trampelpfad ein. Mit dem Blindenstock ertastet er markante Felsen oder Baumstämme am Wegesrand. Horst orientiert sich aber auch am Plätschern der Bäche, an Grasnarben und an unterschiedlichen Steigungen. Moosiger Waldboden gibt ihm ebenso Hinweise wie Asphalt und felsiger Untergrund. Waltraud, eine Frau aus der Wandergruppe, tippt mir auf die Schulter. „Hier“, sagt sie und reicht mir ihren Blindenstock und ein Halstuch zum Verbinden der Augen herüber. „Probier einmal!“ Bald darauf sind nicht nur die Glockenblumen und die Disteln für mich verschwunden: totale Finsternis.

Es riecht nach Regen. Sonst kann ich nichts riechen. Ob sich Blinde im Gebirge auch mit Gerüchen zurechtfinden? „Ich schnuppere eher, um die Landschaft zu genießen“, sagt Waltraud. Über das Riechen entstehen innere Bilder. Vorsichtig versuche ich mit dem Stock, der Wegschneise zu folgen. Doch ständig verliere ich die Spur und torkle durch hohes Gras. Die Stimmen der Mitwanderer werden leiser. Zweimal bin ich schon ausgerutscht, da höre ich Rolfs Stimme: „Weiter nach rechts! Vorsicht, Da unten kommt der Fluss!“ Kurz darauf spüre ich eine Hand auf der Schulter, Rolf führt mich auf den rechten Weg zurück.

Langsam gewöhne ich mich an die Dunkelheit. Vor meinem inneren Auge ziehen Tannenhaine vorbei, Bergwiesen, geheimnisvolle Steinkreise. Ob sie nur in meiner Vorstellung existieren? Lang spazieren wir über weichen Waldboden. Dann wird der Boden härter. Kinder lachen, Teller klappern, Stimmengewirr. Es duftet nach Fränkischem Sauerbraten. Als ich die Augenbinde abnehme, stehen wir vor einem Gasthof in Bischofsgrün, dem Ausgangspunkt der Rundwanderung. blindenverband.at

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.03.2015)

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