Der Herr der Fliegen

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Fliegenfischer. „Wirf die Leine in einem Bogen von elf nach ein Uhr!“ Manchmal geht gar nichts und manchmal alles: in der nördlichsten und einsamsten Grafschaft Irlands der Kunst des Fischfangs auf der Spur.

Langsam schiebt Colin Gardener seine schwarze Hornbrille weiter in Richtung Augen, fokussiert den kleinen Haken, und zieht mit viel Geschick den Bindfaden durch das winzige Öhr. In einem endlosen Schwung lässt er das dunkle Garn um die beiden Federkiele kreisen, zieht kräftig daran und schnürt schließlich einen kunstvollen Knoten. Gelb und rot, das ist die Farbwahl, die Colin für heute getroffen hat. Mit dieser Kombination sollen einmal mehr die Forellen hinters Licht geführt werden.

Colin ist Fliegenbinder, ein Meister seiner Zunft, wie seine Freunde sagen. „Nicht ganz schlecht“, so bezeichnet der Natur-Imitator selbst seine filigrane Arbeit. „Letztlich zählt nur das Ergebnis.“ Und damit meint der Ire nicht etwa, ob die hergestellte Kunstfliege seinem eigenen Schönheitsideal entspricht, sondern ob die Attrappe die Fische zum Anbeißen bringt. Eines ist auf alle Fälle sicher: Am Anfang jedes Fliegenfischer-Tages steht eine Bastelstunde, denn ohne Köder bleibt jeder Haken blank.

Die Illusion muss perfekt sein

Fliegenfischen besteht aus dreierlei: der Technik im Umgang mit der Rute, der Wahl des richtigen Platzes zur richtigen Zeit, und eben dem Herstellen eines geeigneten Fliegenimitats. „Die Illusion der Fliege muss perfekt sein“, meint Colin, während er in seiner Werkzeugkiste nach einem speziellen Kleber stöbert, um die Enden zu versiegeln. Mit einer grellen, neongelben Paste verleiht er seinem neuesten Imitat den letzten Schliff. Seine Tätigkeit weckt Erinnerungen an die Handarbeitsstunde in der Volksschule. Überall stehen Kisten mit Schubfächern voller Federn, Stoffe und Fäden sowie Dutzenden Werkzeugen wie Scheren, Nadeln und Zangen. Um die richtige Wahl beim Fliegenbau zu treffen, braucht es jede Menge Erfahrung. Colin gibt sein Wissen nur als Hobby-Lehrer in Schnupperkursen weiter. Viele Anglerjahre waren nötig, ehe er sich das Know-how angeeignet hat. Seine Entscheidungen, ob künstliche oder Naturfeder, Fell oder Kunststoff, und natürlich, welche Farbe das jeweilige Material haben soll, beeinflussen die Fangquote. Der Spruch „Das Auge isst mit“ gelte auch für Fische. „Denen muss beim Anblick buchstäblich das Wasser im Mund zusammenlaufen“, sagt Colin, während er zufrieden das Ergebnis betrachtet. Dieses erinnert dank der knalligen Farbenpracht stark an einen Fliegen-Punker.

Alles Übungssache

Eine Stunde später lässt Lindsey mit graziöser Eleganz die Leine über seinem Kopf sanfte Bögen ziehen, Colins meisterlich gefertigte Fliege ein paar Mal auf der Oberfläche auftippen, ehe er sie zielgenau zwischen zwei aus dem Wasser ragenden Felsen bettet. Punktlandung! Genau diese Stelle hatte er zuvor seinen vier Fliegenfisch-Novizen aus Italien und Deutschland als Ziel genannt. Die Vier staunen nicht schlecht über die Präzision, die ihr Lehrer auf eine Distanz von knapp 30 Metern zeigt. „Alles Übungssache“, meint Lindsey, „in ein paar Tagen könnt ihr das auch.“ In Wahrheit braucht es Jahre, um diese Technik derart zu verfeinern. Doch der Gillie, wie Angel-Guides in Irland genannt werden, weiß genau, dass Anfänger beim Fliegenfischen schnell den Mut verlieren. Zum einen, wenn sie den Bogen beim Auswerfen der Leine nicht schaffen, zum anderen, wenn der finale Erfolg ausbleibt. Auf den Biss hat Lindsey Clarke nicht immer Einfluss, aber zumindest beim Erlernen der Technik kann er Hilfestellung geben.

„See der Fische“

Ursprünglich stammt Lindsey aus England, das er aber vor 19 Jahren auf der Suche nach einem Job verlassen hat. Gestrandet ist er auf der Nachbarinsel, im touristisch eher unbekannten Norden Irlands, wo er sein Hobby zum Beruf machen konnte. Ein Glücksgriff, denn der 47-Jährige hasst große Städte: „In London oder Dublin halte ich es keine drei Tage aus“, erzählt er. Seither arbeitet er in der Abgeschiedenheit des County Donegal als Gillie, hat eine Freundin gefunden und ist zudem für die 2010 neu geschaffene Inland Fisheries Ireland (IFI) tätig. Diese staatliche Agentur schützt und bewahrt die heimischen Fischbestände – 74.000Kilometer an Flussläufen und 128.000 Hektar Seen sind das Einsatzgebiet. Lindsey ist für die vielleicht einsamste, aber mit Sicherheit nördlichste Grafschaft verantwortlich.

Hier, am Lough Eske, einem vier Quadratkilometer großen See, der vom gleichnamigen Flüsschen gespeist wird, sind Angler, die die Ruhe der Natur suchen, richtig. Umrahmt von den Bluestack Mountains, die wie die ganze Insel mehrheitlich grün eingefärbt sind, verspricht der See das, was Anglerherzen höher schlagen lässt: Übersetzt bedeutet sein Name „See der Fische“. Wenn das kein Zeichen ist? Lindsey stattet jeden seiner Teilnehmer mit einer Rute aus und erklärt, worauf sie zu achten haben. „Der richtige Schwung ist das A und O“, stellt er fest. Von elf nach ein Uhr lautet die Marschrichtung für die Handhabung. Nur kurze Zeit später zischen die Leinen durch die Luft, kreuzen einander, streifen haarscharf die dunkelgrünen Regenmäntel und verheddern sich ein ums andere Mal hoffnungslos ineinander.

Doch Training ist alles, bereits nach einer Stunde zeigen sich erste Erfolge, die mit dem Ortswechsel auf das schwankende Motorboot aber gleich wieder zunichtegemacht werden. Hatte die Trockenübung mit festem Boden unter den Füßen noch gut funktioniert, kämpft man auf See mit zusätzlichen Herausforderungen. Von einem Boot aus könne man sich deutlich bessere Fischgründe erschließen, stellt Lindsey Erfolgserlebnisse in Aussicht. Der Standort, die richtige Tageszeit seien ebenso wichtig wie Colins Wahl des richtigen Materials beim Köderbau.

Nach einer Stunde ohne einen einzigen Biss keimen erste Zweifel an Lindseys Versprechen. Noch wird seine Kompetenz nicht offen infrage gestellt. Außer Shane O'Reilly, einem Kollegen, der Lindsey heute aushilft und zwei der Neu-Angler in seinem Boot mitgenommen hat, bleibt niemand gelassen: „Manchmal geht nichts, manchmal geht alles“, sagt er. Immer wieder werden die Fliegen ausgeworfen, abwechselnd langsam oder ruckartig über das Wasser gezogen, um die Bewegung von Insekten zu simulieren.

Nichts geht! Zudem ziehen Regenwolken auf, die ihre nasse Fracht genau über den beiden Booten entlassen. „Fische mögen keine Sonne“, sagt Lindsey mit einem breiten Grinsen. Und gerade, als bei den ersten Resignation aufkommt, ertönen Freudenschreie aus Shanes Boot. Schüler Mario ist es, der den ersten Biss des Tages schafft. Anfängerglück! Dass der Fang nur eine rund zehn Zentimeter lange Babyforelle ist, schmälert den Stolz nicht. Nachdem das Tier vom Haken ist, darf es ins Wasser zurück. Catch and release – überlisten und wieder in die Freiheit entlassen, so könnte man das Prinzip der irischen Nachhaltigkeit zusammenfassen. „Vor allem unsere Besucher aus Übersee haben oft eine andere Einstellung“, sagt Lindsey, ohne eine Nationalität zu nennen. Von Vorteil ist, dass trotz des Überangebots Iren lieber Fleisch als Fisch essen. Für Mario ist es keine Überwindung, sich von seinem Fang zu trennen. Ihm reicht die Gewissheit, das intelligente Tier überlistet zu haben und nachweislich ein echter Fliegenfischer zu sein – wenn auch nur ein kleiner.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.03.2015)

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