Aus Tradition fürs Leben verstümmelt

125 Millionen Mädchen und Frauen weltweit sind beschnitten: Ihnen wurden im Kindesalter die äußeren Genitalien entfernt – weil die Gesellschaft es so verlangt.

Ihr Schicksal steht für Millionen von Mädchen auf der ganzen Welt: Die junge Sumaya Amer aus dem entlegenen ägyptischen Dorf Davudiya (siehe Reportage oben), die sich gegen die Genitalverstümmelung von Mädchen einsetzt, hat durchgemacht, was laut Schätzungen von Unicef (Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen) 125 Millionen Mädchen und Frauen auf der ganzen Welt haben durchmachen müssen: Ihnen wurden im Kindesalter – meist zwischen fünf und 14 Jahren – von einer Hebamme oder einem traditionellen Heiler mithilfe einer Rasierklinge oder eines Messers die äußeren Geschlechtsorgane teilweise oder völlig entfernt.

Die Mädchen werden von ihren Müttern, die auch selbst solch einen Eingriff über sich ergehen lassen mussten, dazu gezwungen. Fast immer findet diese Beschneidung in den Häusern der Betroffenen statt – unter katastrophalen hygienischen Bedingungen. Die Mädchen erhalten vorher keine Betäubung, sie werden von Frauen festgehalten, während die Hebamme schneidet. Aber auch diese Variante gibt es, vor allem in Ägypten: Die Mädchen werden in Kliniken oder Privatpraxen gebracht, wo Ärzte die Operation illegal durchführen. Dort stimmen zwar die hygienischen Bedingungen, die physischen und psychischen Auswirkungen, unter denen die Betroffenen meist ein Leben lang leiden, bleiben gleich: Infektionen, Schmerzen beim Geschlechtsverkehr, Komplikationen bei der Geburt, Unfruchtbarkeit und Einschränkungen des sexuellen Empfindens sind nur einige der möglichen gesundheitlichen Folgen.

In 29 Ländern Afrikas und der arabischen Halbinsel gehört die Praxis der Genitalverstümmelung an Frauen (FGM, kurz für Female Gender Mutilation) zum Alltag: Am häufigsten kommt FGM in Somalia (98% der Frauen und Mädchen sind dort beschnitten), in Guinea (96%), Djibouti (93%), Ägypten (91%), Eritrea (89%) Sierra Leone (88%) und im Sudan (88%) vor. Auch im Jemen und in Syrien wird FGM praktiziert – vermutlich auch noch in einigen asiatischen Ländern, doch Daten gibt es dazu keine.

Nicht in Religion verankert. Seit Langem schon gilt FGM als Verletzung der Menschenrechte. In 26 der 29 afrikanischen Länder, in denen FGM verbreitet ist, sind solche Eingriffe illegal. Doch auch die entsprechenden Gesetze können nur wenig gegen eine alte Tradition ausrichten, die fest in der Gesellschaft verankert ist. Soziale Akzeptanz und bessere Chancen auf dem Heiratsmarkt werden laut Unicef von den Betroffenen als Hauptgründe für das Festhalten an FGM genannt. Auch medizinische Mythen und ästhetische Vorstellungen spielen eine Rolle, zudem soll so die Sittsamkeit der Frau gewahrt werden.

Egal, ob Muslime oder Christen, mit Religion hat die „schädliche Tradition“ – wie Aktivisten FGM nennen – nichts zu tun. Obwohl in den Augen vieler Betroffener Religion ein wichtiger Grund für eine Beschneidung ist, gibt es in den religiösen Schriften keine Rechtfertigung dafür. In Ägypten wurde 2007 von einem hohen islamischen Gremium eine Fatwa dagegen erlassen, Fatwas regionaler Autoritäten folgten. Die Praxis konnte dennoch nicht eingedämmt werden. Religion und Traditionen sind eben – vor allem in ländlichen Regionen – eng miteinander verwoben.

Das Problem bleibt allerdings nicht auf Afrika beschränkt: Auch in Europa und in Nordamerika sind Ärzte immer wieder damit konfrontiert. Migranten bringen FGM aus der alten Heimat mit in die neue. Wenn möglich, fahren sie mit ihren Töchtern nach Hause, um dort eine Beschneidung durchführen zu lassen. Es gibt aber auch Berichte darüber, dass Beschneiderinnen nach Übersee fahren, um gleich eine Vielzahl an Mädchen dem Ritual zu unterziehen. In Europa sind rund eine halbe Million Mädchen und Frauen laut Schätzungen der EU-Kommission beschnitten. In Österreich sollen es um die 8000 sein.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.04.2015)

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