Mehr ist mehr in der ?evabdžinica

Sarajevo
Sarajevo(c) "Sarajevo twilight" by BloodSaric at the English language Wikipedia. Licensed under CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Common
  • Drucken

Sarajevo/Bosnien und Herzegowina. Wo genau hat der Erste Weltkrieg begonnen? Was ist eine Sarajevoer Rose? Und wer grillt die leckersten ?evapi?

Hier endet Mitteleuropa, hier beginnt der Balkan“, sagt Neno Novaković, der 30-jährige Reiseleiter. Eine Gruppe sammelt sich um ihn und bestaunt den Querstrich, der die Maršala Tita, die Flaniermeile von Sarajevo, in zwei Hälften teilt. Hinter Novaković stehen prächtige Jugendstilhäuser aus der Habsburgerzeit, direkt vor ihm wimmelt es von Menschen in den kleinen Läden des osmanischen Basars. „Westen und Osten, wie es hier steht, oder vielleicht doch eher Norden und Süden?“, fragt Neno mit einem Lächeln. Auf jeden Fall sei der bewusste Stilbruch in Stein gemeißelt und entsprechend gekennzeichnet, „damit jeder erkennen kann, dass das Klischee vom Grenzland hier tatsächlich stimmt“.
Von April bis Oktober unternimmt Novaković fast täglich ziemlich anspruchsvolle Stadtführungen durch die bosnische Hauptstadt. Mit seinem jugendlichen Enthusiasmus, dem Unterfutter Politikwissenschaft und seinen Erinnerungen an eine Kindheit unter Belagerung und Beschuss macht er jeden Besucher neugierig. „Wer nach Sarajevo will, sollte feste Schuhe mitbringen. Und die Vorurteile daheim lassen.“
Noch vor 20 Jahren war Bosnien und Herzegowina ein Schlachtfeld. Doch seitdem haben sich die Städte Bosniens enorm verändert. Das beschädigte historische Erbe wurde restauriert, viele Flüchtlinge kehrten heim, um Restaurants und Geschäfte zu eröffnen. Der Tourismus boomt, auch wenn er noch weniger als zehn Prozent des bosnischen Bruttoinlandsprodukts ausmacht. „Das Potenzial war immer da, aber es dauerte, bis die Infrastruktur wieder instand gesetzt wurde“, sagt Novaković bei einem „einheimischen Kaffee“ in einem der historischen Wirtshäuser der Altstadt. „Auch heute ist es nicht optimal, die Züge und Busse in der ganzen Region brauchen nach wie vor viel zu lang. Es gibt viele Baustellen. Aber die ausländischen Besucher meiden das Land nicht mehr.“
Der älteste Teil Sarajevos stammt aus dem 16. und 17. Jahrhundert und wurde rund um den Basar (baščaršija) gebaut. Die schmalen Gassen tragen die Namen traditioneller Berufe wie Weber oder Tischler. Vor allem die Kupfer- und Goldschmiede genossen hohes Ansehen, denn das bergige Land war ressourcenreich und exportierte bald Metalle und Handwerksprodukte. Die osmanischen Gouverneure ließen öffentliche Bäder, Toiletten und Trinkbrunnen errichten, die bis heute das Stadtbild prägen. Hinzu kamen zahlreiche Moscheen und Religionsschulen, die zum Teil in den Neunzigerjahren zerstört und später restauriert wurden. Die größte Moschee Bosniens, benannt nach dem Gouverneur Gazi Husrev Beg, befindet sich mitten in der Altstadt.

„Bosniakisch“

Trotz der großen Anzahl der muslimischen Gebetshäuser in Sarajevo hat Religion einen konventionellen, sprich sozialen Charakter. Zwar versteht sich die überwiegende Mehrheit der Einwohner als „Bosniakisch“, was einem Bekenntnis zum Islam gleichgesetzt wird und sie von den anderen, christlichen Bosniern kroatischer oder serbischer Herkunft differenzieren soll. Doch die Moscheen (džamije) sind nicht besser besucht als die katholischen und orthodoxen Kirchen – und über Alkohol- oder Schweinefleischkonsum hat sich hier noch niemand beschwert. „Wir sprechen alle die gleiche Sprache“, sagt Neno und wirkt dabei so, als hätte er ein Tabu gebrochen. „Auf dem Balkan definiert sich die ethnische Herkunft über die Religion. Doch was, wenn man nicht religiös ist?“, fragt er in die Runde. Niemand hat eine Antwort. Auch Neno nicht.

Dreizehn Parlamente

An Paradoxa ist das kleine Land nicht gerade arm. Die Arbeitslosigkeit liegt seit Jahren bei rund 50 Prozent, vor allem unter den Jungen, die die Stammklientel der vielen Cafés stellen und von einem Job in Mitteleuropa träumen, während sich Bosniens Politiker aller Couleur in ethnische Querelen und Korruptionsaffären verstricken. „Mit drei Präsidenten, zwei territorialen Entitäten, zehn Kantonen und insgesamt dreizehn Parlamenten ist Bosnien kaum regierbar und alles andere als funktional“, sagt Politikwissenschaftler Neno. Und lacht: „Das macht Bosnien umso interessanter.“ Vor der neugotischen Herz-Jesu-Kathedrale blickt die Statue von Johannes Paul II. auf die Passanten herab. In den Neunzigerjahren unterstützte der damalige Papst die Unabhängigkeitsbestrebungen Bosniens, die Bosniaken behalten ihn in guter Erinnerung.
Gleich um die Ecke scheinen Schlaglöcher in der Straße mit einem Asphalt rötlicher Farbe gefüllt worden zu sein: Die sogenannten Sarajevoer Rosen markieren die Stellen, wo serbische Bomben und Granaten explodiert sind. Unweit davon dokumentiert eine Ausstellung die Geschichte des Kriegs und das Massaker von Srebrenica.
Es steckt viel Geschichte in dieser kleinen Stadt. Die elegante Lateinerbrücke, nur wenige Gehminuten von der Kathedrale entfernt, wurde im 16. Jahrhundert von den Osmanen gebaut und nach der türkischen Bezeichnung für Katholiken benannt, die in diesem Stadtteil wohnten. An der Straßenecke direkt an dieser Brücke erschoss Gavrilo Princip 1914 Erzherzog Franz Ferdinand. Heute befindet sich das Stadtmuseum ausgerechnet in dem Gebäude, in dem Princip auf den Thronfolger gewartet und seinen letzten Kaffee vor dem Attentat getrunken haben soll. Ein Großteil des Ausstellungsraums ist der Habsburgerzeit und den damaligen ethnischen und politischen Spannungen gewidmet.
Mit ihrer orientalischen Architektur ist die heutige Nationalbibliothek einer der interessantesten Bauten der Hauptstadt. Doch Sarajevo würde ohne die bosnische Küche seinem Namen nicht gerecht werden. Sie ist ein deftiger Mix aus mitteleuropäischen und türkischen Einflüssen, die Letzteren sind noch dominanter als in anderen Balkanländern.
Im Restaurant Dveri im osmanischen Stadtteil kommen bekannte Vorspeisen wie der pikante Paprika-Aufstrich Ajvar oder der Schichtkäse Kajmak in bester Qualität mit ofenfrischem Pogača-Gebäck und in intimer, angenehmer Atmosphäre auf den Tisch. Weiter geht's dann mit Pura, der bosnischen kalorienreichen Variante von Polenta, oder mit der Fleisch- und Gemüseorgie Mećkalica, einer Art Letscho.

Gefüllte Paprika und Zucchini

Wer es zu Mittag weniger opulent mag, pilgert in das etwas ältere Pod Lipom („Unter der Linde“), wo auch schon Bill Clinton diniert haben soll. Empfehlenswert sind hier Sarajevski Sahan – gefüllte Paprika und Zucchini. Zum Frühstück oder für den kleinen Hunger nehmen die Bosnier gern Pita, Fladenbrot gefüllt mit Faschiertem (Burek), Spinat (Zeljanica) und Käsevariationen (Sirnica). Das auch international berühmteste bosnische Gericht bleibt die Grillspezialität ?evapi, auch als ?evapčići bekannt. Die Imbissvariante gelangte schon früh nach Mitteleuropa, für den Originalgeschmack ist aber doch ein Besuch einer ?evabdžinica ein Muss – in Sarajevo etwa der ?evabdžinica ?eljo.
Das Abendprogramm beschließt Neno Novaković mit einem Glas Wein im Café Tito. „Noch besser ist gleich eine ganze Flasche“, sagt er, denn „auf dem Balkan heißt es immer noch: ,Mehr ist mehr.‘“

FLANIEREN, LOGIEREN UND DINIEREN AN DER MILJACKA

Museum von Sarajevo
Habsburgerzeit, Erster Weltkrieg,
Montag bis Freitag 10–18 Uhr, samstags 10–15 Uhr. Zelenih beretki 1, +387/335 332 88, http://muzejsarajeva.ba/en/

Galerie 11/07/95
Ausstellung über das Massaker von Srebrenica, täglich 10–18 Uhr.
Trg Fra Grge Martića 2/III
+387/339 531 70, galerija110795.ba

Restaurants:
Dveri: Bosnische und mitteleuropäische Küche. Täglich 11–23 Uhr, am besten reservieren. Prote Bakovića 12, +387/335 370 20, http://www.dveri.co.ba/english/aboutus.html
Pod Lipom: Bosnisch pur.
Prote Bakovića 4 +387/334 407 00,
http://www.podlipom.ba/English/index.php
Kibe: Bosnisch. Vrbanjuša 164, +387/
334 419 36, http://restaurantkibe.com/
?evabdžinica ?eljo: ein Heiligtum der ?evapi (Cevapcici), Kundurdžiluk 19,
+387/334 470 00
?evabdžinica kod Muje: ?evapi
Braće Mažar i majke Marije 24,
Banja Luka, +387/512 135 62
http://www.cevabdzinicakodmuje.com/

Cafés und Bars
Café Tito: nostalgische Atmosphäre, Zmaja od Bosne 5, +387/612 080 881
Zlatna Ribica: Kapitol 5, +387/332
153 69
Art Kino Kriterion: junges, alternatives Publikum, Obala Kulina Bana 2, +387/332 031 13
Pink Houdini: Jazz und Blues.
Branilaca Sarajeva 31, +387/638 951 95

Unterkünfte:
Hotel Old Town
Traditionelle Atmosphäre mit modernem Komfort.
?určiluk mali 11 a, +387/335 742 00, http://hoteloldtown.ba/
Hotel Konak
Bosnische Atmosphäre, moderner Komfort.
Mula Mustafe Bašeskije 54, +387/334 769 00, http://www.konak.ba/
Hotel Boutique 36
Safvet-Bega Bašagića 36,
+387/332 333 09, http://www.hb36.ba/
Villa Eden
Konak 18, Mostar, +387/365 553 90
http://www.vilaeden.com/

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.