Im Land der schaurigen fünf

Wenn die Serengeti in Tansania abgeweidet ist, queren riesige Herden von Grasfressern den Mara-Fluss, um weiter nach Norden in die Masai Mara in Kenia zu gelangen
Wenn die Serengeti in Tansania abgeweidet ist, queren riesige Herden von Grasfressern den Mara-Fluss, um weiter nach Norden in die Masai Mara in Kenia zu gelangenWin Schumacher
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Tansania. Die Massenmigration von Grasfressern in der Serengeti ist die größte der Erde und die Querung des Flusses Mara ein höchst dramatisches Spektakel.

Verkehrsstau in der Savanne. Vierzehn Safariwagen haben eine Löwin umzingelt. Aus den offenen Dächern der Land Rover ragen Kameraobjektive. Im Sekundentakt klicken die Auslöser. Ranger rufen per Funk ihre Kollegen. Die Löwin unter der Akazie scheint den Rummel gewohnt zu sein. Am Abend werden ihre Porträts auf zig Facebook-Seiten rund um die Welt zu sehen sein. Raubkatze im Morgenlicht. Grüße aus der Serengeti, Tansania. Bilderbuch-Afrika.

„Müssen es immer nur die Big Five sein?“, fragt Elia Mollel, der Safari-Guide. Löwe, Leopard, Büffel, Elefant und Nashorn stehen auf den Must-see-Listen von Reisenden in Tansania ganz oben. „Es gibt so viel mehr Spannendes in der Savanne zu sehen“, sagt der 24-jährige Massai. „Wie wär's zum Beispiel mit den Ugly Five?“

Elia muss keine Überzeugungsarbeit leisten. Wir lassen den Stau gern hinter uns und begeben uns auf Alternativsafari. „Die hässlichen fünf der Serengeti sind Warzenschwein, Marabu, Geier, Hyäne und Gnu“, erklärt Elia. „Vielleicht nicht so schön, aber genauso interessant wie die Big Five. Sie haben alle ihre besondere Rolle in der Savanne“, sagt Elia, „und sind besser zu beobachten.“

Kaum haben wir die Weite der Serengeti für uns, gerät schon der erste Vertreter der Ugly Five vor die Kameralinse. Wie ein reuiger Büßer robbt ein Warzeschwein auf Knien durch den Staub und steckt den Rüssel in den Dreck. Wegen seines kurzen Halses kommt es so besser an Wurzeln und Knollen. Mit seinen warzenartigen Kopfauswüchsen, fleckigen Hauern und dem struppigen Borstenscheitel ist der Eber wahrlich keine Schönheit.

Verwesendes Fleisch

Auf dem Weg zum Marafluss liegen überall Kadaver über die Savanne verstreut. Fellreste, gehörnte Schädel, sonnengebleichte Knochen. Es riecht nach verwesendem Fleisch. Es ist die Zeit der großen Gnuwanderung. Mit dem Wechsel der Regen- und Trockenzeiten wandern alljährlich hunderttausende Weißbartgnus, Steppenzebras und Antilopen von der Serengeti in die angrenzende Masai Mara in Kenia. Hinterher Löwen, Hyänen und Schakale.

Elia hat unweit der Piste eine schaurige Szenerie ausfindig gemacht. Am Kadaver eines Gnus zerren drei Tüpfelhyänen. Knurrend und winselnd balgen sich die schäferhundgroßen Tiere um das Aas und fletschen die Zähne. Um sie herum hat sich eine Truppe Geier formiert, die nur darauf wartet, dass die Hyänen eine Lücke freigeben. „Geier ist nicht gleich Geier“, erklärt Elia. „Ohrengeier sind mit ihren mächtigen Schnäbeln in der Lage, auch die Kadaver von großen Säugetieren aufzubrechen, Weißrückengeier können mit ihren nackten Hälsen bis tief in die Gedärme vordringen. Was sie übrig lassen, holt der Kappengeier. So hat jeder seine besondere Nische. Die Vögel schaffen als Gesundheitspolizei das viele Aas aus der Welt und beugen so Seuchen vor. Und ist der Sperbergeier mit seiner weißen Federstola nicht eigentlich ganz hübsch?“

Zwei Marabus nähern sich der Szene und glotzen den Geiern gierig über die Schultern. Selbst unter den Hässlichen tut sich der Marabu noch an Unansehnlichkeit hervor: ein übergroßer dreckiger Schnabel, an dem zwei Äuglein und ein wenig Flaum kleben, dazu ein faltiger Kehlsack, der wie ein roher Fleischlappen am Hals hängt, und ein graues, ungepflegtes Gefieder. „Die Staubsauger der Savanne“, sagt Elia. „Auch nicht schön, aber nützlich.“ Was die Geier übrig lassen, holen sich die hässlichen Storchenvögel. In weniger als einer halben Stunde sind von dem Gnu nur noch Knochen und ein paar Fellreste übrig.

Elia erhält einen Funkspruch. Am nahen Marafluss haben sich hunderte Gnus eingefunden, die den Fluss in Richtung Masai Mara überqueren wollen. Die Überquerung des Flusses ist ein Spektakel, das in der Welt der Tiere seinesgleichen sucht. Der Guide tritt aufs Gaspedal. Von einer Anhöhe aus sehen wir bereits die gewaltige Gnuherde. Die Savanne ist dunkelgrau von den Körpern der Huftiere. Dicht gedrängt stehen sie am Ufer. Die Tiere zögern. Der Fluss hat unberechenbare Stromschnellen und im schlammbraunen Wasser warten meterlange Krokodile.

Mehr und mehr Tiere stauen sich am Uferstreifen, verharren erst minutenlang und machen dann nervös kehrt. „Es kann manchmal Stunden dauern, bis das erste Gnu den Sprung ins Wasser wagt“, sagt Elia. Hunderte, bald tausende donnernde Hufe wirbeln eine dichte Staubwolke auf. Das nervöse Grunzen der Gnus erfüllt die Steppenluft. Den Tieren haben sich kleine Gruppen von Zebras und Leierantilopen angeschlossen.

Grzimeks Serengeti

Die große Wanderung von der Masai Mara in die Serengeti ist die letzte Massenwanderung großer Säugetiere auf der Erde. Dass die große Gnuwanderung Ostafrikas bis heute fortbesteht, ist ein Wunder. Naturschützer kämpfen weiter gegen immer neue Straßenbauprojekte in der Serengeti. In der Masai Mara werden Wilderer immer mehr zum Problem, seit Kenia mehrfach zum Anschlagsziel von Islamisten wurde und daraufhin der Tourismus einbrach. Grzimeks alter Schlachtruf „Serengeti darf nicht sterben!“ ist auch 55 Jahre nach seiner bekannten Kinodokumentation noch aktuell.

Plötzlich springt das erste Gnu mit einem Satz in den Fluss. Was nun passiert, ist so faszinierend wie dramatisch. Seinem instinktiven Trieb folgt nun, Tier für Tier, die gesamte Herde. Mit meterhohen Sprüngen stürzen sie sich in die Flut, durchschwimmen dicht nebeneinander den Fluss, während die Masse am Ufer ins Wasser drängt. Mit panisch aufgerissenen Augen halten sie den Kopf über Wasser, stolpern auf einer Felsinsel übereinander, bleiben teils an der Steilböschung am anderen Ufer hängen. Wer zu viel Kraft verliert, riskiert, von der Strömung mitgerissen oder unter den Hufen der nachdrängenden Masse niedergewalzt zu werden.

Ein mächtiges Krokodil nähert sich dem Geschehen, wartet, bis ein Gnu ihm geradezu ins Maul schwimmt. Das junge Tier versucht sich zu befreien, doch es hat keine Chance gegen die Echse. Es wird in die Tiefe gezogen und ertränkt. Unterhalb der Stromschnellen hocken schon die Geier auf den toten Gnus, die die Überquerung nicht überlebt haben. Dutzendweise stauen sich die Kadaver am Ufer.

Etwa eine Stunde verfolgen wir das Schauspiel, bis das letzte Gnu, eines mit gebrochenem Bein, die rutschige Böschung hinaufklettert. „Das hier ist mein Büro“, sagt Elia mit Blick auf den Fluss, nachdem auch das letzte Tier verschwunden und der Donner der Hufe verhallt ist. „Ich würde es für kein anderes auf der Welt tauschen.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.05.2015)

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