Helle Nächte im Haus am See

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Entspannen im Wald, im und am Wasser. Raus aus der Stadt: Im Sommer pilgern die Finnen in die Natur, von der sie ja nicht wenig haben. Sie schwimmen, fahren Kajak oder Kanu, saunieren am See, angeln, grillen Lachs und schlafen in den kurzen Nächten des Nordens so wenig wie möglich.

Vorsichtig zieht Pasi Heinonen den Drahtkorb aus dem Wasser. Dunkelgraue Flusskrebse krabbeln darin. Fast liebevoll nimmt Heinonen zwei von ihnen in die Hand und zeigt sie den Besuchern. Dann wirft er die Tiere in den See zurück. Sie haben Glück – der Krebszüchter hat es eilig, er will die Sauna anheizen.

1995 übernahm Pasi Heinonen den bei Vilppula im Westen Finnlands gelegenen Hof Koivulahden Rapukartano, damals Standort einer kleinen Milchwirtschaft. Zu klein, wie er bald feststellte. Er verkaufte die Kühe und verlegte sich auf Krebse. Heute ist seine Krebsfarm eine der größten der Region. Im Haupthaus des Hofs richtete er 2006 sieben Gästezimmer ein und baute mit „Merta“, was auf Finnisch Krebsfalle bedeutet, ein weiteres Gästehaus. Heinonen wurde eineinhalb Kilometer von seinem Hof entfernt geboren; er hat sein ganzes Leben in Vilppula verbracht. Wegzugehen kam für ihn nie infrage: „Ohne den Frieden der Natur, ohne den See vor meiner Tür könnte ich nicht leben“, erklärt der 48-Jährige.

Im Sommer erreicht diese Gemütslage auch Finnlands Stadtbevölkerung. Am Wochenende liegen die Straßen Tamperes, der nach Helsinki und Espoo drittgrößten Stadt des Landes, dann so verlassen, als liefe im Fernsehen gerade das Endspiel der Fußball-WM. Stadtflucht ist ein reales Phänomen des finnischen Sommers. Am ruhigsten wird es in der Johannisnacht, der hellsten des Jahres. Dann strebt alles aufs Land, selbst Helsinki erlebt eine stille Nacht.

Hohe Dosen Tageslicht

Jeder hat einen Verwandten, der ein Holzhaus in der Wildnis besitzt, und wenn nicht, dann mietet man sich eine Hütte. Auch die Nächte verbringt man in der Natur, am liebsten in einem Holzhaus mit Sauna am See. Diese Hütte gehört zur finnischen Identität wie die Umlaute und der unmäßige Genuss von Kaffee.

Der Weg in die Wildnis führt durch Nadel- und Birkenwälder, die durch Elchzäune von der Straße getrennt sind. Irgendwann führt eine Abzweigung zu einzelnen, weit verstreuten Holzhäusern. Es sind die Außenbezirke von Mänttä-Vilppula, 85 Kilometer nordöstlich von Tampere. Die Kleinstadt ging aus zweien hervor: dem ländlichen Vilppula und dem industriell geprägten Mänttä. Das ist weniger schlimm, als es klingt. Heute ist Mänttä trotz seiner übersichtlichen Größe – 11.000 Menschen leben hier und in Vilppula – Museumsstadt und Schauplatz eines der wichtigsten Festivals Finnlands für zeitgenössische Kunst. Und obwohl es noch immer zwei Fabriken gibt, liegt Mänttä wie ein von der Gegenwart kaum berührtes Dorf in der endlosen, goldenen Abendsonne.

Ende des 19. Jahrhunderts war der Bedarf an Papier so grenzenlos wie die Wälder Finnlands, das durch seinen Holzreichtum zur Industrienation aufstieg. Der Selfmademan, Sägewerkbesitzer und Fabriksgründer Gustaf Adolf Serlachius (1830–1901) verwandelte das Dorf Mänttä in eine prosperierende Stadt. Nachdem ihm im persönlichen Leben kein Glück beschieden war, seine fünf Kinder fanden durch Alkohol, Syphilis, Selbstmord oder Kombinationen daraus ein Ende, wurde Serlachius zum Kunstliebhaber und Förderer finnischer Künstler. Sein Neffe und Erbe Gösta Serlachius erweiterte die Sammlung und hinterließ sie einer dafür gegründeten Stiftung. In ihr haben auch die Warhols und Liechtensteins aus dem Besitz des Gösta-Museums Platz – als einige der Überraschungen, die die Wälder Südwestfinnlands jenseits erwartbarer Attraktionen wie Elche, Beeren und Pilze bereithalten. In Mänttä ist die Luft schwer vom Duft der Rosen, die sich durch hohe Dosen Tageslichts ähnlich zügellos entwickeln wie die tiefroten, süßen Erdbeeren des Nordens. Am Grill vor der Kirche wirft die Dorfjugend lange Schatten, trinkt Bier und kurvt mit frisierten Mofas um den Platz. Nachtsonne und Blütenduft wirken wie Rauschmittel.

Nackt über ein Feld laufen

Auch so erklären sich Mittsommerbräuche wie jener, in der hellsten Nacht des Jahres nackt über ein Feld zu laufen. Dabei begegnet man dem Volksglauben zufolge dem künftigen Ehepartner – oder der Polizei. Risikoscheue legen sich sieben verschiedene Blumen unters Kopfkissen, auf dass der oder die Zukünftige sich im Traum zeige. Dieser Brauch widerspricht allerdings dem Imperativ finnischer Sommernächte: aufbleiben und das lange Licht nutzen.

Zum Schlafen ist der Winter da, der Sommer zum Schwimmen, Fischen, Kanufahren, Beerenpflücken und Draußensein. All das macht wach und wagemutig, wie Jyri Peltola feststellte, als er vor elf Jahren in der Nähe von Mänttä die Insel Latosaari erwarb. Damals arbeitete er als Ingenieur häufig im Ausland. „Da begriff ich erst, wie schön unsere Natur in Finnland ist.“ Jyri wuchs am Ufer des Sees auf, in dem seine Insel liegt. Vor dreieinhalb Jahren begann er mit dem Bau eines Luxusblockhauses. „Es war das Schlimmste, was ich je gemacht habe“, erklärt er. „Der Papierkram war unglaublich.“ Permanent wohnen darf er nicht in dem Haus mit weißen Böden, schwarzen Treppen, offenem Kamin, Wohnküche mit Glasfront zum See und vier Schlafzimmern; also verbringt er mit seiner Freundin hier manches Wochenende und vermietet das Haus an andere Natursüchtige.

Über einen hölzernen Steg erreicht man die Insel und lässt auf diesem Weg innerhalb weniger Minuten den Alltag vollständig hinter sich. Alles spielt sich hier im Miniaturkosmos von Sauna und See ab; zwischen Schwitzbad und Sprung ins Wasser tritt man an die Feuerstelle vor dem Haus, um der Natur auch in jenen Aufwärmphasen nahe zu bleiben, die das Klima hier zu jeder Jahreszeit erforderlich macht.

Dann, nicht lang nach Mitternacht, färbt sich der Horizont rot, die Vögel stimmen einen frenetischen Morgengesang an. Er dauert an, bis die Zeit für Kaffee und dunkles, süßes Brot mit Butter kommt.

SICH BETTEN WIE KÖNIG CARL GUSTAF, SAUNEN WIE ALLE FINNEN

Anreise: Wien–Tampere–Wien mit Finnair via Helsinki ab ca. 270 €. Wien–Helsinki–Wien ab 326 €, man kann die 170 Kilometer bis Tampere auch mit dem Zug zurücklegen. Rückfahrticket ab 31,80 Euro, www.vr.fi
Von Tampere fährt dreimal täglich ein Zug nach Vilppula; es gibt auch regelmäßige Busverbindungen von Tampere nach Mänttä. matkahuolta.fi

Übernachten: Koivulahden Rapukartano. Auf der Krebsfarm kostet das DZ pro Nacht ab 147 Euro. Hier kann man aufs Wasser schauen, schwimmen, rudern, fischen, saunen und wandern. Im Restaurant werden Flusskrebse und andere regionale Spezialitäten serviert. Rapukartano, Koivuseläntie 77, 35700 Vilppula, +358/44/592 9429, rapukartano.fi

Villa Latosaari: Das unweit von Mänttä auf einer kleinen Insel gelegene Luxus-holzhaus hat vier Schlafzimmer für je zwei Personen und kostet in der Hochsaison (Juni bis August und Weihnachten) inkl. Wäsche und Reinigung pro Woche 2500 Euro, in der Nebensaison 1500 Euro. luxholiday.fi/en/554.html

Honkahovi Arthotel: Wer einmal im selben Bett schlafen möchte wie der schwedische König, Carl Gustaf, hat hier Gelegenheit dazu. Das Haus wurde 1938 am Seeufer erbaut und verfügt über zwölf Zimmer; die Nummer eins bewohnte der König anlässlich von Jagdausflügen mit dem finnischen Präsidenten. Es kostet ab 129 Euro pro Nacht, andere Zimmer gibt es ab 79 Euro. Johtokunnantie 11, 35800 Mänttä, +358/3474 5900, klubin.fi

Anschauen: Zwei Museen in Mänttä sind dem Serlachius-Clan gewidmet; das Kunstmuseum Gösta zeigt eine eindrucksvolle Sammlung finnischer Meister und moderner Kunst; „Gustaf“ erzählt audiovisuell die Geschichte des „Papierteufels“ und des Einflusses der Papierindustrie auf die Region. Juni bis August, tägl. 10–18 Uhr, 8 Euro.

Allgemeine Auskünfte: Visit Tampere,
visittampere.fi, manttavilppula.fi, visitfinland.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.07.2015)

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