Danzig: Disneyland ohne Disney

(c) Amanshauser
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Danzig, über lange Zeit deutsch geprägt, ist heute eine quirlige polnische Stadt an der Ostsee, glänzend aufgebaut.

Agnieszka chauffiert ein Golfcart. Einziger Unterschied zu den herkömmlichen Golfmobilen ist, dass sie keinen Meter auf Gras fährt und keine Schläger mitführt. Zwischen den Patrizierhäusern wirkt das seltsam deplatziert, solche Vehikel sieht man in der europäischen Öffentlichkeit seltener als Draisinen – doch die Innenstadt von Danzig (polnisch Gdańsk, eine halbe Million Einwohner) quillt gleichsam über vor ihnen. Kein polnischer Begriff steht auf ihren Deckschirmen, sondern „City Tour“ und „Stadtrundfahrt“, in den beiden touristischen Leitsprachen. „Keine Sorge, ich hab‘ den Führerschein“, sagt Agnieszka, eine der raren Frauen in diesem Job, „unser Chef verlangt einen. Dabei ist die Maximalgeschwindigkeit 40, und die hab‘ ich in diesen engen Gassen noch nie erreicht.“ Bis zu sechs Passagiere kann sie auf ihrem hübschen, umweltfreundlichen Gefährt aufnehmen, manchmal sitzt noch ein Kind auf einem Schoß, eigentlich verboten, aber die polnische Polizei hat andere Probleme.

Die Tour klappert die Sehenswürdigkeiten der Geburtsstadt von Günter Grass und Arthur Schopenhauer ab – wer bei Agnieszka nachfragt, kriegt selbstverständlich individuelle Fahrten berechnet, zu den Häusern jener Familien oder quer durch eine unfertige, fröhliche Metropole, voll von Graffiti, Gstättn und Garagen, in der die Immobilienentwickler noch nicht die Oberhand haben.

Die Innenstadt ist fast verkehrsfrei, doch Golfmobile dürfen hier und dort zirkulieren. Man sieht sie von der Aussichtsplattform des Rechtstädtischen Rathauses. Unten liegt aber auch die Fußgängerzone, der repräsentative Königsweg mit seinen Aristokraten- und Kaufmannshäusern, unter anderem dem Uphagenhaus, in dem eine charmante Bürgerwohnung aus dem 18. Jahrhundert nachgebildet ist.

Sternkunde als Geisterbahn. Der Turm der abseits gelegenen Katharinenkirche hat 66 Stufen. Am Eingang befindet sich eine Ampel. Leuchtet sie grün, wer könnte der Verführung widerstehen? Oben werden die Kunden mit Geisterbahnlicht verwirrt – jemand kassiert Eintritt von den durch den Aufstieg Geschwächten. Dafür gibt es eine Ausstellung alter Uhrwerke und Uhren. Im Dachboden sitzt die Figur eines schnurrbärtigen Mannes, des Astronomen, Bierbrauers und Mondforschers Jan Heweliusz (Johannes Hevelius, 1611 bis 1687).

Von hier aus wurden bei der Himmelsbeobachtung die höchsten Messgenauigkeiten der Welt erreicht – unter anderem mit einem 45 Meter langen Teleskop. Seine zweite Frau Elisabetha Koopmann oder Kaufmann, spätere Hevelius (1647 bis 1693) wurde zur ersten Astronomin überhaupt, deren Leistungen anerkannt wurden. Sie gab einen Katalog zur Stellung der Himmelspositionen heraus und beschäftigte sich mit Monddiagrammen. Schon im Kindesalter hatte sie ihr brennendes Interesse am Sternenhimmel zum prominenten Astronomen geführt, ihre Heirat mit 16 – er war 52 – galt als gesellschaftlicher Skandal. Die beiden arbeiteten fast ein Vierteljahrhundert zusammen und machten Danzig zur Zentrale der Astronomie des 17. Jahrhunderts.

Technik am Wasser. Das bizarre, holzschwarze Krantor stammt aus dem 14. Jahrhundert. Der Kran wurde einst mit Trettrommeln von gut sechs Metern Durchmesser angetrieben, durch die Gefangene wie Hamster rannten, damit der Mechanismus Masten aufstellte oder Weinfässer auf die Weinbrücke manipulierte. Das Krantor ragt tief ins Wasser der Alten Mottlau, die ihrerseits in den Werftbereich ragt. Dutzende Besucher durchqueren das Tor, starren irritiert auf die Trommeln und horchen, wie ein Mittsechziger mit ausgefranster Beatlesfrisur mit Gitarre „He’s a real nowhere man“ singt. Er sitzt auf dem Boden. Wenn sein Blick den eines Passanten kreuzt, lächelt er, um auszudrücken, dass er niemand anderen als sich selbst meint. Agnieszka schüttelt milde den Kopf: „Der ist immer da. Ziemlich falsch gestimmte Gitarre, oder?“ Sie lädt auf das Golfmobil, wendet es routiniert und hält fest, was ihr wichtig ist: Das heutige Danzig verstehe man am besten vom Solidarność-Platz aus.

Vor dem Gittertor mit den Lettern „Stocznia Gdanska“, Danziger Werft, hält sie. Heute handelt es sich, sagt Agnieszka (selbst zehn Jahre nach dem Aufstand von Lech Wałęsas Kumpels geboren), um den vielleicht stärksten Kraftort Polens. Drei hohe Stahlkreuze strecken sich in den Himmel. Alles hier hält die Erinnerung an die beiden Erhebungen gegen die Apparatschiks am Leben. 1970 waren noch Menschen erschossen worden, und das Denkmal wurde zehn Jahre danach vor hunderttausenden Empörten inauguriert. Weiter vorne steht eine Nachbildung des Solidarność-Logo in der Wiese – ein Schriftzug, der graphisch seiner Zeit voraus war. Nicht lange muss man suchen, bis man am Zaun auch das Bildnis des Papstes findet. Hier betete er 1987 wortlos, umgeben von geballter Miliz.

Originaltreue Neubauten. Danzig ist eine Art Disneyland seiner selbst. Keines der Innenstadthäuser ist im Originalzustand. Der II. Weltkrieg hat das historische Zentrum niedergewalzt, alles, was die Freie Stadt Danzig ausmachte, war vernichtet. Nach Fotografien und alten Stichen wurden die beiden Zentrumsviertel, die Altstadt und die Rechtstadt „originalgetreu“ aufgebaut, mit Begeisterung ging man sogar einen Schritt zurück und historisierte. Wir sprechen meist nur über die Fassaden. Schon in den Stiegenhäusern, aber auch in den Wohnungen verströmen die Innenstadthäuser den warmen Reiz der Fünfziger- und Sechzigerjahre – nette Neubauten hinter edlen Wänden.

Die Augen Agnieszkas leuchten: „Es war die größte Kraftanstrengung für unsere Stadt. Wir durften dadurch bleiben, was wir waren.“ Nicht unumstritten war die Entscheidung, das touristische Kapital wiederherzustellen – im kommunistischen Polen lauerten staatsnahe Architekten nur darauf, eine menschenwürdigere Stadt aus Plattenbauten herzustellen. „Stellen Sie sich vor, wie das aussehen würde“, sagt Agnieszka und verweist auf die Wellenhäuser in der Vorstadt – Europas drittlängstes Wohnhaus, das die Wellen der Ostsee nachbildet.

Vorbei an Hinterhöfen, Sehnsuchtsorten und Einsamkeitsplätzen fährt Agnieszka, und auf Wunsch hält sie beim portugiesischen Trash-Supermarkt Biedronka (Marienkäfer). Aber nie kommt sie bis zur Westerplatte, einer Sandbank an der ehemaligen Weichselmündung. Teil ihrer Erzählung ist jedoch immer, dass an jenem Ort der II. Weltkrieg am 1. September 1939 um 4.45 begann. Ein deutsches Kriegsschiff begann den Beschuss gegen einen völlig unterlegenen Gegner. Auch an dieses hohe Denkmal gelangte der Papst bei seinem Besuch 1987: „Jeder findet im Leben seine Westerplatte“, wusste er hier zu sagen.

Proletarisch-mondäne Dreistadt. Wohin Agnieszkas Golfmobil auch nicht gelangt, sind die beiden angrenzenden Städte, Gdynia (Gdingen) und Sopot. Gemeinsam mit Danzig bilden sie die Trójmiasto, die Dreistadt, ein Küstengebilde mit mehr als einer Million Einwohner. War Danzig immer deutsch geprägt, so war das proletarische Gdynia, vor hundert Jahren noch ein winziges Fischerdorf, der „polnische Korridor“ zum Meer und logischerweise auch die Gegenseite in den letztlich vergeblichen und heroischen Kämpfen gegen Hitler-Deutschland – die besetzte Stadt wurde am Tag des ersten Hitlerbesuchs, dem 20. September 1939, vorübergehend „Gotenhafen“ genannt. 1970 wurden hier die ersten Proteste in den Werften niedergeschlagen. Die lockere, grüne, moderne Stadt hat neben schreienden Möwen und einer Mega-Papststatue kaum Sehenswürdigkeiten, aber verströmt das, was man „positive Energie“ nennen könnte – kleine Holzständchen mit Imbissen tragen dazu bei. Im Vorort Òrłowò filmen die polnischen Vorabendserien vor dem berühmten Kliff ihre idyllischen Liebesszenen.

Sopot (die offizielle deutsche Schreibung Zoppot trifft man nur selten an) ist das elegante Kurbad, und wegen der bleistiftdünnen Halbinsel Hel – auf der man in den Genuss von zwei Meeren kommt, dem des Haffs und der rauen Ostsee – spricht man gerne von einer Riviera des Nordens. Hier ragt ein Holzpier, Molo genannt, mit 511,5 Metern der längste Europas, ins Meer. Im Zentrum stehen die schönen Villen, unter ihnen das recht unbekannte Pensjonat Eden, in dem sich das Konzept „Pension“ des 20. Jahrhunderts erhalten hat, für Ihren Reiseautor übrigens die schönste Unterkunft der Welt.

Hinter dem Kurpark erstreckt sich durch die Geburtsstadt Klaus Kinskis der abschüssige Einkaufsboulevard, die Ulica Bohaterów Monte Cassino, früher Seestraße, heute Monciak genannt, das Herz der Dreistadt: Sie beherbergt das elegante schwarz-weiße Maschineneis, die Lokale mit polnischer Borschtschsuppe oder Bigos-Eintopf, die Skateboarder, die Papagei-Glückskartenspieler, die Breakdancer, den kirchenhaften Leuchtturm, und natürlich das Krumme Häuschen (2004), ein an Hundertwasser geschultes Einkaufszentrum.

Werbung? „Klar, Sopot muss jeder sehen, der in Danzig war!“ Agnieszka überreicht zum Ab­schied einen vierfarbigen Minifolder und verdreht dabei die Augen: „Die Firma meines Chefs. Hinten meine Telefonnummer. Rufen Sie mich einfach an, wenn Sie uns brauchen. Da unten diese Homepage können Sie vergessen, die ist meist nicht erreichbar.“

Tipps

Rumfahren. Im schrägen Golfmobil.
Mitbringen. Traditionelle Muster findet man bei Bunzlauer. www.bunzlauerkeramik.at
Kosten. Polnisches Bier: Das Zywiec ist am weitesten verbreitet. www.zywiec.com.pl

Pierogi/Piroggen. Ein perfekter Ort für das Nationalgericht, in Butter leicht angebratene und gefüllte Teigtaschen, ist Pierogarnia u Dzika, www.pierogarniaudzika.pl ul. Piwna 59/60.

Einkehren. Café Goldwasser. Direkt am Langen Markt, links vor dem Grünen Tor. Nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Restaurant weiter vorne an der Alten Mottlau – mit unglaublichem Schokoladekuchen.

Anschauen. Museum der polnischen Post: Gleichzeitig mit der Attacke auf die Westerplatte 1939 wurde das Postamt beschossen, die Verteidiger wurden von den Nazis ermordet. Museum of the Polish Post in Gdansk, Plac Obrońców Poczty Polskiej 1/2.

Marienkirche: Danzig ist be- kannt für seine aktive Religiosität, für die größte Kirche Polens (bzw. der Welt) – die Marienkirche oder Bazylika Mariacka Wniebowzięcia Najświętszej Maryi Panny w Gdańsku.

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