"Huis ten Bosch": Fake-Europa in Japan

(c) Bloomberg (Akio Kon)
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Eines der beliebten Reiseziele für Japaner ist der Alte Kontinent, aber nicht jeder schafft den weiten Weg. Deswegen bietet der Themenpark „Huis ten Bosch“ bei Nagasaki Abhilfe.

„Mama, was ist eigentlich Europa?“ Das Kind ist wohl zum Fragen aufgelegt. Und der verblüfften Mutter fällt keine bessere Antwort ein: „Das liegt am anderen Ende der Welt. Ein ganz großes Land. Es ist schön dort.“ Das Kind scheint zufrieden. Wer wäre das nicht, wenn genau hier, hinter der Eingangsschleuse, gleich eine Reise in dieses schöne, große Land beginnt?

„Sugooi!“, ruft das Kind, „wow!“ In der Ferne ragt ein buntes Riesenrad in die Höhe, davor fliegen Luftballons, eine Windmühle lässt ihre Flügel kreisen, in einem kleinen Wald stehen Hirsche und Häschen. Auf einem Kanal mit blitzsauberem Wasser fahren Boote unter hübschen Steinbrücken hindurch, sie bieten einen Blick auf ein barockes Traumhaus neben dem anderen. Und sie bringen einen zu Attraktionen: einem Actionfilm, der die holländische Geschichte erklären soll. Einem deutschen Marktplatz mit permanentem Oktoberfest. Einer Kopie von Venedig mit Maskenbällen. Einem Museum über holländisches Porzellan. Unzähligen Souvenirläden aus allen europäischen Ecken, in die Asiaten gern reisen. Oder gern reisen würden.

Denn vor allem richtet sich der Themenpark „Huis ten Bosch“ an Besucher aus Asien, die es bis ins echte Europa nicht schaffen. Auf 152 Hektar, etwa der Größe Monacos, bietet das Areal eine Art erste Ableitung der Stammform. Eine Maximierung der Schönheit, der Alte Kontinent, wie er im Buche steht. Vielleicht auch nur in japanischen Büchern über Europa. Dreck liegt hier keiner auf der Straße und Wiener Klassik trällert durch die Lautsprecher auf den Hauptstraßen. Mit Erfolg: „Huis ten Bosch“ ist eine der beliebtesten Destinationen Südwestjapans.

Holländischer Barock

Und wo so sonst sollte dieser Park installiert sein als in Nagasaki, dem selbst erklärten japanischen Tor zur Welt? Zu Beginn des 17. Jahrhunderts begann für Japan eine Isolationsperiode, die ihren Bürgern die Ausreise und Ausländern die Einreise verbot, nachdem vor allem katholische Missionare aus Portugal zu aufdringlich geworden waren. Die sogenannte Edo-Ära, in der sich Japan vom Rest der Welt abgeschottet hat, wird heute als Blütezeit einer ganz eigenen japanischen Kultur verstanden. Da gediehen japanische Formen des Bühnenspiels, der Erzählkunst, mechanische Spielzeuge und soziale Normen, die bis heute Bestand haben.

Nagasaki, das an der Westküste liegt, hat aber einen Sonderstatus. Weil hier bis zu Beginn der Isolation Holländer ein- und ausgegangen sind, von denen auch Japan profitiert hat, hat ihnen der herrschende Shogun erlaubt, sich innerhalb eines eingezäunten Gebiets an der Küste aufzuhalten. Diese Ausnahme ermöglichte Japan den Zugang zu wichtigen Waren und brachte dem heute kaum eine halbe Million Einwohner zählenden Nagasaki den Ruf eines Orts kultureller Begegnung ein.

So beschloss die Präfektur Nagasaki, in der die gleichnamige Hauptstadt liegt, vor 20 Jahren ihr internationales Erbe in Stein zu meißeln und Beton zu gießen. Die Europa-Kenner aus Japans Westen legten „Huis ten Bosch“ an. Natürlich ist der Name kein Zufall – er ist geborgt vom im 17. Jahrhundert bei Den Haag erbauten Lustschloss, das heute der holländischen Königsfamilie als Sommerresidenz dient. Und so sieht auch das Hauptgebäude des Themenparks aus: ein riesiger Klotz aus Backstein, im Stil des holländischen Barock. Ein Traum, fast schöner als sein Original. Dieser Eindruck entsteht hier häufig. Zu schön, um wahr zu sein. Wer hier Blut leckt und dann ins echte Europa reist, kann nur enttäuscht werden.

Britischer Horror

Zum Glück ist nicht alles ein Schlaraffenland. Großbritannien fällt die Rolle der Hölle zu: Hinter nachgebauten Londoner Taxis treiben Kopien von Jack the Ripper ihr Unwesen, dazu spielt Michael Jacksons Hit „Thriller“ – zwar nicht europäisch, aber das Zombie-Flair passt: Nebenan wartet ja das Schloss des Todes mit einer 3-D-Show von Untoten, darauf folgt ein Grusellabyrinth. Zudem gibt es eine Toilette des Horrors mit Fake-Blut und -Körperteilen. Nicht weit von der Hölle muss so etwas wie Spanien oder Portugal liegen. Ein großer, offener Platz mit Tischen und Stühlen, eingerahmt von vermeintlich alten Häusern, in einem nicht so richtig iberischen Stil. Auf der Plaza, umrahmt von Sonnenblumen, wird den Gästen zum Mitmachen vorgetanzt. Die Musik: „Let's Get Loud“ von Jennifer Lopez. Europa kann auch Bronx und Karibik sein.

Über den paradiesischen Kontinent ist die Nacht hereingebrochen. Und was für eine! In jedem Baum leuchten jetzt Lichterketten, selbst das zwielichtige Londoner Pflaster sieht zwischen den bunten Lasershows romantisch aus. Neben einem großen Piratenschiff an einem der Kanalanleger, vor dem drei Spielautomatenhöllen lärmen, strahlt ein kleiner Junge glücklich: Endlich stehen keine anderen Kinder mehr an, also kann er von einem Stuhl aus unter freiem Himmel auf einer riesigen Leinwand ein Autorennvideospiel spielen. Das Beste an seiner Aussicht: Verliert er, kann er immer noch Pirat werden. Das Schiff nebenan wartet. Kurz vor Europas Geschäftsschluss, zehn Uhr abends, ist einer der Wachposten vor einem vermeintlich alten Schloss nicht mehr besetzt. Dahinter sieht es so aus wie nirgendwo sonst hier. Laub liegt auf dem Pflaster, zwischen deren Steinen Unkraut wuchert. Über der Hecke hängen Spinnweben. Jetzt drückt auch die Blase. Und hier kann man es endlich unbeobachtet auf die kontinentale Art erledigen, ohne Schuldgefühle, die Kulisse zu stören. Ab hinter den Busch. Kurz vor Schluss, aber doch noch angekommen, in diesem schönen Europa.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.08.2015)

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