Alaska: Ein Ort, kein Name

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850 Kilometer vom nächsten Theater entfernt hat ein Broadway-Schauspieler sein Zuhause. Auch viele Goldsucher hoffen in Nome auf ihr Glück, an der Beringsee in Alaska.

Viel gibt es nicht zu sehen aus dem kleinen Flugzeugfenster. Hunderte Kilometer Tundra ziehen vorüber, kahle Berge, dann der weit verzweigte, mäandernde Flusslauf des mächtigen Yukon. Kein Haus, kein Baum, keine Straße geben dieser Landschaftstapete Orientierungspunkte. 850 Kilometer vom Startflughafen Anchorage entfernt, schwebt die Boeing der Alaska Airways schließlich auf die Beringsee hinaus und setzt dann in einer scharfen 180-Grad-Kurve hinter einem Felskap zur Landung an. Wie die Landspitze hieß, wusste ein britischer Marine-Kartograf in den 1850ern nicht zu sagen. „? Name“ schrieb er auf eine Küstenkarte. Jemand anderer hielt das Fragezeichen für ein C und das a für ein o. So kamen Cape Nome und der Ort gleich dahinter durch einen Schreibfehler um 1900 zu ihrem Namen.
Ein Jahrhundert später sieht Nome nicht viel anders aus als damals, als es nach dem größten Goldfund Alaskas praktisch innerhalb eines Sommers für 25.000 Menschen und 70 Bars auf den Permafrostboden gezimmert wurde. Beim Anflug ziehen sich ein paar windschiefe Bretterfassaden an teils ungeteerten Straßenzügen an der Küste entlang. Eine gehört – will man dem „Playboy“ Glauben schenken – zu den verruchtesten 20 Bars der Welt. Zwischen den Häusern hängen Stromkabel, rosten Autowracks, Kettenfahrzeuge, Fischerboote und Hundehütten. Dahinter befinden sich das neue Krankenhaus auf Stelzen und ein erstaunlich großer Hafen.

(c) State of Alaska/Kristen Kemmerling

Der Empfang in der 3000-Einwohner-Stadt ist nicht weniger rustikal: Im winzigen Terminalgebäude drängen sich Männer in Parkas mit Tarnmustern. Zwei beleibte Typen in Warnwesten wuchten achtlos das Gepäck durch ein Fenster auf eine Metallrutsche. Viele Passagiere haben wohlweislich nur stabile Plastikboxen aufgegeben, mit breitem Paketband fünffach umwickelt. „Birdies“, Hobby-Ornithologen aus Texas und Georgia auf der Suche nach seltenen Watvögeln, fischen in dem Durcheinander nach ihrer Ausrüstung. Dazwischen stehen einige Inupiak-Eskimos auf Heimatbesuch und ein junger Mann mit Vollbart und robuster Carhartt-Outdoorhose. Er erzählt, er solle für den Sommer ein Camp für Goldwäscher außerhalb der Stadt leiten. Viele kämen für ein, zwei Wochen. „Und was sie finden, dürfen sie behalten“, sagt er, „Hey Mann, wir sind hier mitten im zweiten Goldrausch!“

Theater in der Tundra. Und dann steht da noch Richard Beneville (Bild Mitte), ein kleiner, drahtiger Mann mit Baseballkappe. Beneville ist kein Goldwäscher oder Inupiak. Beneville ist Schauspieler aus New York. Am Broadway feierte er Triumphe als Hauptdarsteller vieler Shows. Doch die Rolle seines Lebens spielt er jetzt ausgerechnet in Nome, Alaska.

Eine halbe Stunde später: Irgendwo muss er noch dieses Foto haben. Beneville fängt an zu kramen. Er steht unter Neonröhren in seinem fensterlosen Büro in der Volksschule zwischen Kisten voller Krimskrams. An den Wänden hängen Plakate, Urkunden, Fotos und ein Weihnachtskranz. „Ach, da ist es ja“, sagt er und zieht einen Holzrahmen aus dem Durcheinander. Darin das schwarz-weiße Szenenbild einer Aufführung von „The Man from Mexico“, geschossen in Nome 1907. Das habe er in einer Zeitung entdeckt. „Wenn die Theater mögen, bist du hier richtig, dachte ich mir, als ich herzog“, sagt Beneville. Damals hatte er schon einiges hinter sich. 1945, kurz vor Kriegsende in New Jersey geboren, zog er mit seinem Vater, einem Zahnarzt bei der Army, nach Japan, Denver, Cambridge und nach der Schule zwei Jahre um die Welt. Schon damals war er nie um einen Spruch verlegen. Bei einer solchen Gelegenheit sagte seine Großmutter ihm einmal voraus, er werde noch als Kühlschrankverkäufer bei den Eskimos enden.

(c) Chris McLennan

Doch Beneville studierte Schauspiel, Musik und Ausdruckstanz und ging mit 20 nach New York. Schon bald bekam er Hauptrollen, etwa in „Anatevka“ oder „My Fair Lady“. „Ich war kein Star, aber ich war Profi. Das Telefon stand nicht still“, sagt er mit viel Stolz in der Stimme. Dann wurde er übermütig, arrogant, versoffen. Sein Freund zog aus, der Alkohol übernahm das Kommando. Bald war das Geld so knapp, dass Beneville ein Verlängerungskabel über die Straße ins Appartement eines Kumpels werfen musste, um Kühlschrank und Fernseher noch betreiben zu können. Den Strom hatte man ihm abgestellt.

Im letzten Moment griff die Familie ein – mit einem One-Way-Ticket nach Barrow, dem nördlichsten Ort in Alaska. Hier vermittelte ein Bruder Beneville einen Job in der Elektroabteilung der Alaska Commercial Company. Die hat nur Läden, wo kein anderer Händler einen eröffnet. Ein Spezialist für ausweglose Fälle. „Am 1. Februar 1980 um elf Uhr vormittags stand ich bei minus 40 Grad am Eismeer.“ Als Beneville ­Myrthle und Thomas Akutschik – an ihre Namen erinnert er sich noch heute – Tage später den ersten Gefrierschrank für ihren Fisch und Walspeck verkaufte, dachte er plötzlich wieder an die Worte seiner Oma. Kühlschränke für Eskimos – das Ende einer großen Karriere. „Das traf mich wie ein Schlag.“ Mit der Hilfe der Anonymen Alkoholiker besiegte Beneville seine Alkoholsucht. Bis heute rührt er keinen Tropfen mehr an. Und von Barrow war es nur ein Luftsprung bis Nome. „Hier gab es immerhin ein paar Straßen zu umliegenden Dörfern und eine bessere Stelle im Supermarkt.“

Wilde im Wilden Westen. Der Laden der Alaska Commercial Company ist noch immer das einzige Geschäft in Nome. Beneville kommt jeden Morgen vorbei und schaut nach dem Rechten. Dabei kennt er eigentlich jeden – Kunden wie Beschäftigte. Doch er machte anderswo Karriere. Er wurde Vizechef der Handelskammer, Touristenführer und ehrenamtlich Kurator im Museum. Die Stadt stellte ihn 1994 ein, um in der Schule mit den Kindern Baseball und Schach zu spielen, zu ringen, zu singen und Theater zu spielen. 20 Musicals hat er mit den Schülern aufgeführt, die meisten stammen aus Inupiat-Familien. Die wenigsten haben mehr gesehen als Nome und seine Nachbardörfer. Und die sind noch viel kleiner als Nome. Beneville hat ihnen ein Fenster zur Welt geöffnet.

Erst jetzt geht er in Pension. Doch davor hat es ihn noch einmal auf die Bühne gelockt. Mit Perücke, Krückstock und Uptown-Akzent spielte er Lady Bracknell in Oskar Wildes Komödie „Ernst sein ist alles“. Der „Nome Nugget“, die Tageszeitung, die laut Impressum an jedem Wochentag außer Montag, Dienstag, Donnerstag, Freitag und Samstag erscheint, brachte ein Szenenfoto in Großformat.
An Ruhestand denkt Beneville nicht. Auf Fahrten in die Tundra setzt er an abgesoffenen Goldbaggern oder den seit einem Jahrhundert vor sich hin rostenden „Trains to Nowhere“ Nomes Geschichten für die wenigen Besucher in Szene. Die drei Lokomotiven zogen zu Beginn des ­
20. Jahrhunderts Vorortzüge auf New Yorks Hochbahn. Doch mit der Elektrifizierung drohte ihnen der Schrottplatz. Für Alaskas wilden Westen waren die starken Arbeitspferde hingegen noch genau richtig: Auf der Steward Halbinsel schafften sie einen schweren Generator zu den Goldminen bei Council. Die feste Zugverbindung aber blieb Vision. 1913 riss ein Sturm eine Brücke über den Sund fort. Die Betreiber gingen pleite wie so viele Glücksritter in der Ggend. Ihre Loks ließen sie einfach liegen.

(c) Martin Wein

Diggers-Ausbeute. Andere versuchen heute wieder ihr Glück. Beneville kurvt auf Sandpisten rauf in die nahen Berge. Ziel ist eine Baustelle östlich des Ortes. Hier werkelt August Krutzsch mit einigen Freunden an seinem Hostel für Hobby-Goldsucher – einige Holzhütten. Krutzschs Großmutter kam zu Beginn des letzten Jahrhunderts aus Köln nach Alaska. Der Enkel besitzt heute einige Claims und schürft mit selbst gebauten Baggern. Auf seinem Smartphone wischt er achtlos durch Bilderreihen mit Nuggets. „Wenn ich das Gold nicht rieche, ziehe ich weiter“, sagt der 46-Jährige lachend. Intuition und viel Geduld sind sein Erfolgsrezept. Und eine möglichst störungsfreie Technik. „Keep it simple“, rät er. In Nome müsse alles robust sein, denn alle großen Ersatzteile müssen teuer per Frachtschiff angeliefert werden. Deshalb liegt im Ort auch so viel Metallschrott herum. Niemand wirft hier etwas weg, das man nicht vielleicht noch einmal zum Ausbessern gebrauchen könnte.

August Krutzsch ist dabei keineswegs der Einzige, der rund um Nome im Boden wühlt. Seitdem der Discovery Channel vor einigen Jahren eine Doku-Soap über einen der Digger brachte und der Goldpreis die 2000-Dollar-Marke knackte, suchen mindestens 35 Glücksritter aus den USA, Russland, Australien, Samoa und zwei Deutsche mit schwerem Gerät und teils abenteuerlichen Erfindungen nach Ruhm und Reichtum.

Das im Hafen geparkte Goldschürf-U-Boot hat sich dabei als teurer Flop erwiesen. Schwimmende Pontons mit Saugrüssel sind eher erfolgreich, können aber auf See nur 30 Tage im Sommer sicher betrieben werden. Und auf dem Land weiß man nie, ob der Boden nicht längst durchwühlt wurde. Verlässliche Karten gibt es nicht. „Mal läuft es gut, mal läuft es mies. Es gibt keine Regel, kein System. Und du musst mindestens 150 bis 200 Unzen pro Saison finden, um Claims und Ausrüstung zu bezahlen und davon zu leben“, sagt abends ein Digger, der sich als Bob vorstellt. Mit Freunden und der Bardame feiert er lautstark im Saloon an der Front Street, der Bar aus dem „Playboy“. Im zweiten Jahr sei er hier, sagt Bob zwischen zwei Runden, und habe 1,3 Millionen Dollar für Ausrüstung investiert. Allein der Transport aus Seattle kostete eine halbe Million. Ja, heute habe er einen guten Tag gehabt, sagt er. Viel Gold hätten sie gefunden, das er in Kalifornien verkaufen werde. Bobs Freunde hören dem Gespräch mit Unmut zu. Warum er den Fremden so viel verrate, schelten sie ihn anschließend. „Ach, ist doch genug da“, ruft Bob und greift zur Bierflasche. Den Besuchern aus Europa traut er eine Digger-Karriere offensichtlich ohnehin nicht zu.

Früher eisfrei als sonst. Weil Richard Beneville all diese Leute persönlich kennt und ebenso ihre Geschichten, könnte er Nome eigentlich gleich als Bürgermeister repräsentieren. In diesem Jahr war der Tiefwasserhafen hier schon Anfang Juni eisfrei und könnte dem Ort als Sicherheitshafen an der Einfahrt zur Nordostpassage in den nächsten Jahrzehnten vermehrt Auftrieb bescheren, glaubt er. In der Gegend lagern riesige Kohlevorkommen, so gewaltig, dass Sarah Palin schon einen Highway nach Anchorage plante. Auch im Tourismus sieht er Potenzial – bei Goldsuchern, Nordlichtjägern und Vogelfreunden. Demnächst will er entscheiden, ob er bei der Wahl antritt. „Dann hätte ich wieder eine größere Bühne“, macht er sich die Idee gerade selbst schmackhaft. Zurück nach New York möchte er jedenfalls nicht. Eine 5th Avenue gebe es ja auch in Nome.

Tipps

Einkehren: Der Ort ist klein, aber die Lokalszene groß. Empfehlungen sind etwa Bering Sea Bar and Grill: Fisch, Meeresfrüchte, Steaks, Burger, japanisch und amerikanisch, 305 Front Street,
beringsearestaurant.co;
Polar Cafe: preiswertes Fastfood mit Meerblick, beliebt bei den Einheimischen, 224 Front Street.

Airport Pizza: In-Lokal mit italienischer Küche von Koreanern gekocht, dazu Seafood, Sandwiches und Salate, 406 Bering Street.

Hinkommen: Condor fliegt Mitte April bis Mitte Oktober mehrmals pro Wo-che Frankfurt–Anchorage, hin/retour ab 700 Euro. Alaska Airways fliegt 2x täglich Anchorage–Nome, hin/retour ca. 325 bis 400 Euro.

Ausflüge: Richard Beneville organisiert Touren in die Umgebung der Steward-Halbinsel, etwa in die Eskimosiedlung Teller, zu den Pilgrim Hot Springs, zum Birdwatching oder zu den Trains to Nowhere und nach Council. discover@gci.net

Übernachten Das Nome Nugget Inn www.nomenug­getinnhotel.com und das Aurora Inn www.aurorainnome.com bieten angenehme Zimmer im Zentrum. Das Dredge 7 www.dredge-7inn.com hat Zimmer und Appartements mit Kochgelegenheit und Aufenthaltsräumen außerhalb der Stadt, hier gibt‘s auch Autoverleih.

Info: Die Reise wurde vom State of Alaska Tourist Office unterstützt. Siehe auch www.AlaskaUSA.de
www.visitnomealaska.com

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