Manhattan: Zwei Gesichter einer Metropole

(c) Reuters (Lucas Jackson)
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Manhattan, der Inbegriff von Urbanität, wartet mit immer mehr Grünflächen und autofreien Zonen auf. Im ehemals ruhigen Künstlerviertel Williamsburg hingegen ist ein wahrer Bauboom ausgebrochen. Ein Spaziergang durch New York.

Josh kann es immer noch nicht glauben. Entspannt sitzt der 27-jährige New Yorker auf einem mitgebrachten Klappsessel und schlürft an seinem alkoholfreien Cocktail, den er soeben beim Straßenhändler ums Eck gekauft hat. „Vor wenigen Monaten hätte mich hier innerhalb von Sekunden ein Auto überfahren“, erzählt er. „Und jetzt bin ich von Ruhe umgeben und kann gelassen meine Zeitung lesen.“

Ort des Geschehens ist der Times Square in New York City. Seit Mai ist dieser Abschnitt am Broadway in Manhattan zwischen der 42. und 47. Straße autofrei. Bloß in den Querstraßen stopft sich nach wie vor der Verkehr. Josh arbeitet nur wenige Straßen entfernt für einen großen Wirtschaftsberater. Früher nahm er sein Mittagessen meist im Büro zu sich. Doch seit Mai verbringt er seine Pause auf dem Klappsessel am Times Square. „Das ist unglaublich entspannend“, sagt er.

Mehr Platz für Fußgänger. „Entspannend“ ist freilich ein relativer Begriff. Denn obwohl die gelben Taxis und andere Fahrzeuge nun zumindest bis Dezember verbannt sind, drängen nach wie vor Tag für Tag zehntausende Touristen über den bekanntesten Straßenabschnitt New Yorks. Trotzdem: Im Vergleich zu früher ist es tatsächlich ruhig. Zumindest das einst ohrenbetäubende Hupkonzert ist deutlich leiser geworden. Deshalb lassen sich auch vermehrt wieder eingefleischte New Yorker wie Josh am Times Square blicken. „Früher habe ich immer einen weiten Bogen um diese Gegend gemacht“, erklärt er, der im Stadtteil Brooklyn lebt.

Der autofreie Times Square ist nur ein Beispiel von vielen, das den Richtungswechsel in der Stadtplanung der Millionenmetropole symbolisiert. Bürgermeister Michael Bloomberg macht kein Geheimnis daraus, dass ihm der 3,4 Quadratkilometer große Central Park im Herzen der Stadt nicht genug ist. Er würde Manhattan gerne noch „grüner“ sehen. Deshalb hat er auch den knapp 300 Meter langen Abschnitt der Sixth Avenue direkt vor dem Megakaufhaus Macy's kurzerhand zur Fußgängerzone erklärt und Bäume pflanzen lassen.

Großstadtradler. Doch damit nicht genug. Seit einigen Monaten zieren vermehrt Radwege die Ränder der viel befahrenen Straßen Manhattans. Eine Entwicklung, die in anderen Städten der Vereinigten Staaten – wo es oftmals keine U-Bahn gibt und das Auto immer noch am meisten zählt – nahezu unvorstellbar ist. Man denke nur an Los Angeles, nach New York die zweitgrößte Metropole der USA, wo es ohne Auto praktisch kein Vorankommen gibt.

Nicht so in Manhattan. Per U-Bahn ist nahezu jeder Ort problemlos erreichbar, auch der kürzlich eröffnete High Line Park im Westen Chelseas. Die ehemaligen überirdischen Zuggleise der High Line wurden in eine Grünfläche direkt über den stark befahrenen Straßen verwandelt. Zunächst auf einer Länge von 800 Metern und bald auf knapp drei Kilometern können Besucher dem Lärm der Stadt zumindest geistig entfliehen. Laut Bürgermeister Bloomberg betrugen die Kosten für den Bau des Parks 152 Mio. Dollar.

Trendige Parks. Gut ein Viertel der Summe stammt von Modedesignern. Sie machten ihren Einfluss geltend und ihre Dollar locker, um den Park zu verwirklichen. Denn bis vor wenigen Jahren war der westliche Teil von Chelsea vor allem für seine Drogenjunkies, Nachtclubs und Fleischfabriken bekannt. Man konnte dem Viertel vieles unterstellen, Noblesse war mit Sicherheit nicht darunter.

Doch als Diane von Fürstenberg, Helmut Lang und Calvin Klein begannen, ihre Modehäuser im „Meatpacking District“ anzusiedeln, wurde dieser Stadtteil „trendig“. Den New Yorkern soll das recht sein. Sie können sich über eine weitere Grünfläche mitten im Zentrum der Stadt freuen.

Ortswechsel. Ganz anders sieht das in vielen Teilen Brooklyns sowie der Bronx aus. Manhattan ist ja nur einer von fünf „boroughs“ – neben Brooklyn und der Bronx gehören noch Queens und Staten Island zu New York City. Die großen Immobiliengesellschaften haben einst ignorierte Grundstücke auf der anderen Seite des East River entdeckt. Ein Beispiel ist der Süden der Bronx, um den man bis Mitte der 1990er-Jahre besser einen weiten Bogen machte, wollte man nicht sein Leben riskieren. Seit Bloomberg die Polizeipräsenz verstärkt hat und die Mordraten so deutlich reduziert werden konnten, ziehen immer mehr eingefleischte New Yorker in die Bronx, um den horrenden Mietpreisen zu entkommen.

Am deutlichsten wird der Bauboom außerhalb Manhattans im einstigen Künstlerviertel Williamsburg. Galt die zu Brooklyn gehörende Gegend jenseits der Williamsburg Bridge noch vor wenigen Jahren als Insidertipp, hat mittlerweile der Kommerz voll zugeschlagen. Die zahlreichen halbfertigen Gebäude erinnern mehr an die Blütezeit der Immobilienblase in Miami als an eine ruhige Oase für Intellektuelle. Die Mietpreise sind bereits höher als in manchen Teilen Manhattans. Seit 2005 wurden mehr als 1000 Bauanträge in Williamsburg gestellt. Viele der Wolkenkratzer zählen mehr als 200 Wohnungen.

„Früher fuhr ich nach Williamsburg, wenn ich dem Lärm der Stadt entfliehen wollte“, erzählt Josh, der seinen Cocktail ausgetrunken hat. „Doch mittlerweile ist es dort lauter als hier“, ergänzt er. Seine Zeit am Times Square ist um. Der Wirtschaftsberater packt seinen Klappsessel ein und lässt die Fußgänger Fußgänger sein.

In Zahlen

21.000Hektar an Grünfläche hat New York – das sind 26,8 Prozent der Gesamtfläche der Stadt.

3,4Quadratkilometer ist der Central Park im Herzen Manhattans groß.

25Mio. Menschen besuchen jährlich den Central Park mit seinen 26.000 Bäumen und 9000 Parkbänken.

800Meter ist der High Line Park in Chelsea lang. Bald werden es drei Kilometer sein.

1000Bauanträge wurden seit 2005 in Williamsburg, einem kleinen Viertel in Brooklyn, gestellt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.07.2009)

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