England: Ein Hase schenkte ihr die Freiheit

BRITAIN-LITERATURE-COIN-POTTER
BRITAIN-LITERATURE-COIN-POTTER(c) APA/AFP (ROYAL MINT)
  • Drucken

Beatrix Potters Geschichten von Peter Rabbit brachten der vor 150 Jahren geborenen Zeichnerin und Kinderbuchautorin finanzielle und persönliche Unabhängigkeit. Ein Besuch in ihrer Wahlheimat, dem Lake District.

Neben der Tür wuchert Rhabarber. Unter den großen Blättern liegt ein Ei – genau wie in einer Illustration aus „Jemima Pratschel-Watschel“. Auch hinter der Tür zum kleinen Farmhaus aus dem 17. Jahrhundert liegen Schauplätze und Entstehungsort der kunstvollen Bilderbücher Beatrix Potters dicht beieinander.

Eine Führerin, die das fast vollständig aus Potters Besitz stammende Interieur bewacht, zeigt erst auf einen Eichenschrank, über dem blau-weiße Porzellanteller hängen, dann reicht sie den Besuchern ein Exemplar der „Geschichte von Samuel Schnauzbart“. Tatsächlich: In der Eingangstür ist dort Katze Ribby, hinter ihr ein Stück von Beatrix' bunt blühendem Sommergarten zu sehen. Auch der Treppenabsatz und der kunstvoll geschnitzte Schrank aus dem 17. Jahrhundert sind zu erkennen, als wären sie abfotografiert. Nur ist das alles von Beatrix Potter gezeichnet noch viel schöner als in der Realität.

Beatrix Potters fein in Pastellfarben gezeichnete Figuren Peter Hase, Benjamin Kaninchen, Frosch Jeremy Fischer und ihre Verwandten und Bekannten sind die Helden von 23 Kinderbüchern, die ihren Zauber über mehr als hundert Jahre bewahrt haben. Die „kleinen Bücher“, wie sie sie selbst nante, entstanden in Near Sawrey im nordenglischen Lake District. Die am 28. Juli 1866 in London geborene Autorin fand hier ihre Wahlheimat. Ihr Bauernhäuschen Hill Top, das sie sich 1905 für 2800 Pfund von den Honoraren ihres Erstlings „Die Geschichte von Peter Hase“ gekauft hat, findet sich mit schöner Regelmäßigkeit in ihren Büchern.

Der Lake District war Beatrix Potters Jugendliebe, die ein Leben lang hielt. „Unser ganzes Interesse und all unsere Freude lagen im Norden“, sagte Beatrix einmal über sich und ihren Bruder Bertram. Für sie lag sogar ihr ganzes weiteres Leben dort. Als sie 1896 das Dorf Sawrey zum ersten Mal sah, war sie gerade 30 und befand sich in Begleitung ihres Kaninchens Peter. Die Konstellation aus Sawrey, Peter und Beatrix wurde wegweisend für die englische Kinderliteratur. Am Ende der Ferien beschloss Beatrix, die seit ihrem 16. Lebensjahr mit Eltern und Bruder die Sommerferien im Lake District verbracht hatte, sich eines Tages hier niederzulassen.

Die Welt, die sie hier fand, konnte sich stärker vom Alltag in der Hauptstadt kaum unterscheiden. Für Beatrix bot die unberührte Natur des Nordens nicht nur neue Inspiration für die Tier- und Pflanzendarstellungen, die sie so meisterhaft beherrschte. Sie wurde auch zum Sinnbild der Freiheit. Denn die Zukunftspläne, die ihre Eltern für die Tochter hatten, waren konventionell: Entweder heiraten oder im Londoner Mädchenzimmer wohnen bleiben – in beiden Fällen lautete das Urteil lebenslänglich.

Zeichnungen wie Fotografien

Immerhin erlaubte ihr der Wohlstand der Eltern, ihre Begabung in Muße zu entwickeln. Als Kind hielt und zeichnete sie im dunklen viktorianischen Stadthaus allerhand Kleintiere, als Mädchen ging sie Tag für Tag ins Naturwissenschaftliche Museum in Kensington, um Pflanzen und Tiere zu zeichnen. Obwohl bereits die Zeichnungen der Zehnjährigen von außergewöhnlichem Talent zeugten, kam eine künstlerische Karriere niemandem in den Sinn. Einzig ihr Bruder ermutigte sie, ihre Bilder als Weihnachtskarten anzubieten – sie wurden ihre ersten Veröffentlichungen. Das Sujet ihrer Kunst, die Naturwissenschaft, blieb ihr verschlossen. Eine Arbeit über Pilzsporen, die sie 1887 einer wissenschaftlichen Gesellschaft in London vorlegte, wurde zurückgewiesen. Dabei finden ihre so akkurat wie Fotografien gezeichneten Darstellungen von Pilzen bis heute in Lehrbüchern Verwendung. Doch schließlich waren es die Bilder des Hasen Peter, die sie zunächst in einem Brief an den fünfjährigen Sohn ihrer ehemaligen Gouvernante zeichnete, die die goldene Käfigtür aufschlugen. Im Dezember 1901 veröffentlichte Beatrix Potter die „Geschichte von Peter Hase“ in einer Auflage von 250 Exemplaren im Selbstverlag. Sechs Verlage hatten die Geschichte zuvor abgelehnt, die sie im Londoner Elternhaus geschrieben und gezeichnet hatte, die aber durch die Urlaube im Lake District inspiriert war. Nach zwei Monaten musste sie nachdrucken lassen. Der Verlag Frederick Warne & Co wurde aufmerksam und veröffentlichte ihr erstes „kleines Buch“. 1902 und 1903 verkaufte sie 50.000 Exemplare. Auf einen Schlag war die Sechsunddreißigjährige unabhängig. Sofort ging sie in ihrer Herzenslandschaft auf Haussuche.

Dass sie es mithilfe des Hasen Peter zu eigenem Vermögen gebracht hat, beschert der Nachwelt das Vergnügen, ihre Wahlheimat so zu sehen, wie sie selbst sie gekannt und erlebt hat. Denn Beatrix Potter vermachte ihr Haus Hill Top und die umliegenden Farmen, auf denen sie einer zweiten Karriere als Landwirtin frönte, allesamt dem National Trust – mit der Auflage, nichts zu verändern.

Die gemeinnützige Stiftung zum Erhalt historisch und kulturell bedeutsamer Häuser und Landschaften nimmt ihre Aufgabe noch heute so ernst, dass ein Erblasser sich darauf verlassen kann, dass es keinerlei Veränderungen gibt. In Hill Top, das Beatrix Potter vor ihrer Heirat mit dem im Lake District heimischen Notar William Heelis im Jahr 1913 bewohnt hat, geht die Sorge um die Authentizität so weit, dass Besucher sich Notizen nur mit Bleistift machen dürfen. Nicht auszudenken, wenn einmal ein Kugelschreiber abrutschte und erst auf Tapete oder Tischdecke zum Stillstand käme.

Fast alle Möbel in den holzgetäfelten Zimmern stammen aus dem Besitz von Beatrix. Die meisten der kleinen Fenster weisen auf den Cottage-Garten, der sich im Frühsommer in einen Farbenrausch aus Blüten verwandelt. Im Erdgeschoß liegen Eingangsraum und ein kleines Wohnzimmer, im ersten Stock führt ein schmaler, dunkler Flur ins „Neue Zimmer“, das größer ist als Schlaf-, oberes Wohn- und das Schatzzimmer. Auf einem Sekretär liegen Zeichnungen, die Wände zieren große Gemälde. In jedem Zimmer liegt das passende Buch, in dem Teile der Einrichtung zu großen Kulissen für kleine Tiere wurden. Trotz der dem Zeitgeschmack entsprechend dunklen Möbel und der rustikalen Schlichtheit des Bauernhauses ist es auf den ersten Blick als das Heim einer Frau zu erkennen. Dem Schlafzimmer verleihen eine grüne, geblümte William-Morris-Tapete und ein weißer Kamin freundliches Ambiente. Das Bett wurde ebenso wie der mit den Initialen von Beatrix und William geschmückte Querbalken über dem Kamin aus ihrem größeren ehelichen Heim Castle Cottage in Lakeland hierhergebracht, das heute vermietet ist und nicht besichtigt werden kann.

Schatzzimmer und Puppenhaus

Schränke sind mit Steingutgeschirr und Porzellanfigürchen gefüllt, hier liegt ein Stickrahmen, dort steht eine Spindel; Korrespondenz liegt herum, Simse, Regale und Wände sind mit gerahmten Fotos geschmückt. Das Schatzzimmer bewahrt alles, was Beatrix lieb und teuer war: ein vollständig eingerichtetes Puppenhaus, Miniaturen ihrer Bilderbuchhelden, Porzellan und viele Bilder. Dieser Raum zeigt sie als Sammlerin, die ihr Heim nach und nach in eine persönliche Schatzkammer verwandelt hat – ihre eigene, bewohnbare Puppenstube. Tatsächlich ist das Haus so klein, dass die Hunderten Besucher, die täglich anrücken, sich nur während eines ihnen zugewiesenen Zeitfensters aneinander vorbeischieben dürfen.

Fachliteratur und Trophäen in den Regalen im Wohnzimmer im Parterre zeigen die andere Seite der Schriftstellerin. Als Schafzüchterin war Beatrix Potter kaum weniger kenntnis- und erfolgreich als in ihrem Hauptberuf. Bilder an den Wänden zeigen immer wieder Potters Herzenslandschaft: den Lake District mit Bergen und Seen. Als sie nach ihrer Heirat nach Castle Cottage übersiedelte, besuchte sie ihr kleines Refugium Hill Top fast jeden Tag, um nach ihren Schätzen und nach dem Garten zu sehen, um zu malen und zu schreiben. Auch die Umgebung wurde so bewahrt, wie Beatrix Potter sie kannte. Nur die Autos, die die schmale Landstraße ins Dorf Near Sawrey fahren, kommen in ihren Büchern nicht vor. Aber der Pub Tower Bank Arms nebenan, der im Werk verewigt ist und den es noch heute gibt, ist auf den ersten Blick wiederzuerkennen.

ON THE ROAD INS BEATRIX-POTTER-LAND, DEN LAKE DISTRICT

Hill Top. Haus und Garten sind bis Ende Oktober geöffnet; das Haus täglich von 10–16.30 Uhr (Juni bis August montags bis donnerstags bis 17.30 Uhr), der Garten bis 17 Uhr; für die Besichtigung des Hauses wird Besuchern ein Zeitfenster vorgegeben. Der Eintritt ins Haus beträgt zehn Pfund für Erwachsene und fünf Pfund für Kinder (Familienticket: 25 Pfund). Während der Öffnungszeiten ist der Eintritt in den Garten frei. Der Parkplatz von Hill Top ist sehr klein. Eine frühe Anfahrt lohnt sich. Hill Top, Near Sawrey, Ambleside, Cumbria LA22 0LF, nationaltrust.org.uk/hill-top.

Privatführungen. Am 2. Juni, 1. September und 6. Oktober stehen in Hill Top private Führungen jeweils eine halbe Stunde nach Schließung des Anwesens auf dem Programm. Teilnehmer können die Besitztümer der Beatrix aus nächster Nähe betrachten und erhalten zahlreiche Informationen durch den Guide sowie ein Glas Wein. Die Showcase Tours dauern eineinhalb Stunden. Kosten: 25 Pfund, Reservierung notwendig, nationaltrust.org.uk/hill-top

Beatrix Potters Geburtstag. Aus Anlass des Geburtstags wird an zwei Terminen (8. Juli und 28. Juli, jeweils 15.45 bis 18.30 Uhr) Castle Cottage für Führungen geöffnet. Das Haus, in dem Beatrix Potter 30 Jahre lang mit ihrem Ehemann William Heelis gelebt hat, ist heute vermietet und normalerweise nicht zu besichtigen. Diese Führungen kosten 25 Pfund und müssen über die Website vorausgebucht werden. In der Beatrix Potter Gallery in Hawkshead ist noch bis zum 30. Oktober die Ausstellung „Romance and Realism“ mit Originalillustrationen von Potters Klassikern, ihren Notizbüchern und Auszügen aus ihren verschlüsselten Tagebüchern zu sehen (tägl. außer freitags 11–16.30 Uhr). Am 28. Juli finden an mehreren Orten im Lake District Geburtstagspartys für Potter statt; so auch im Obstgarten von Hill Top. Näheres im Netz unter nationaltrust.org.uk/hill-top.

Allgemeine Auskünfte: visitbritain.com/de

Farmen-Sammlerin. So sehr liebte Beatrix ihre Wahlheimat, dass sie begann, alte Farmen zu sammeln, um sie vor dem Verfall und das dazugehörige Land vor Neubauten zu bewahren. 14 Bauernhöfe hinterließ sie 1943 dem National Trust. Schon vor ihrem Tod hatte die leidenschaftliche Landschaftschützerin eng mit der Stiftung zusammengearbeitet. So hat sich die Kulisse ihres Lebens, der Lake District, auch dank ihres Engagements für den Erhalt der Natur kaum verändert. Die Berge und die funkelnden Seen unter dramatischen Wolkenbildern sind eine Landschaft zum Träumen, Wandern und Weltvergessen.

Falkenkopf. Eine ihrer Farmen liegt in Hawkshead, dem nur zwei Kilometer von Hill Top entfernten Dorf, in dem William Wordsworth zur Schule ging, der große Dichter der Romantik. Neben krummen Häuschen aus dem 16. Jahrhundert gibt es hier Teestuben, Pubs und die Beatrix-Potter-Galerie des National Trust. Heute ist Hawkshead, das anders als das winzige Near Sawrey über einen großen Parkplatz verfügt, ein regelrechter Hasen-Schrein.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.05.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.