Breslau, die Stadt der Brücken

Das Rathaus in Breslau
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Die Europäische Kulturhauptstadt 2016, setzte sich ambitionierte Ziele: 400 Projekte in allen künstlerischen Disziplinen und 1000 Kulturveranstaltungen sollen die Besucherzahlen verdoppeln.

Breslau. Wer über den Breslauer Marktplatz Rynek in Richtung Elisabethkirche schlendert, dort den 90 Meter hohen Turm besteigt, den fantastischen Ausblick genießt und wieder unten am Rynek ankommt, trifft unweigerlich auf eine kleine Schar von Zwergen aus Bronze. Diese sitzen, stehen oder lümmeln mit ihren Zipfelmützen in der gesamten Wrocławer Altstadt herum und haben mittlerweile den Rang von Botschaftern eingenommen.

Nicht nur in touristischer Sicht. Die Wrocławer Gnome waren Sinnbild der Freiheitsbewegung gegen die kommunistische Zwangsherrschaft. In Polen gab es nicht nur Lech Wałęsas Solidarność, sondern auch die avantgardistische Orange Alternative in Wrocław. Initiiert wurde diese zum Teil dadaistisch agierende Widerstandstruppe von „Major“ Waldemar Fydrych. Berühmtheit erlangte der Künstler Anfang der Achtzigerjahre mit seinen Zwergengraffiti, die er auf jene Farbflecken malte, die das damalige Regime über Freiheits- und Antiregierungsparolen der Solidarność-Bewegung gepinselt hatte. Zu Ehren der Orangen Alternative wurde 2004 der erste Zwerg in Wrocław aufgestellt. Inzwischen ist ihre Zahl auf 239 angewachsen.

Vertreibungen, Ansiedelungen

Übermalungen waren in Wrocław aber nicht nur ein Mittel des antikommunistischen Widerstands, sondern standen jahrelang auch im Dienst der Geschichtsvermeidung. Wenn bei Renovierungs- oder Umbauarbeiten ein deutscher Straßen- oder Geschäftsname auftauchte, wurde er bis vor einigen Jahren ebenfalls überpinselt. Das kam nicht von ungefähr, denn Breslau stand wie kaum eine andere Stadt im Brennpunkt der wechselvollen Geschichte zwischen Deutschen und Polen. Nach dem zweiten Weltkrieg wurden rund 300.000 Breslauer von der Roten Armee aus ihrer Heimatstadt vertrieben. Auch die Neuansiedlung von Menschen aus dem Osten erfolgte zum Großteil unter Zwangsmaßnahmen.

Diesem Thema widmete sich auch der Beitrag Polens bei der 56. Biennale di Venezia 2015. Die Kunstschau mit dem Titel „Dispossession“ war eines der ersten internationalen Projekte der Europäischen Kulturhauptstadt Wrocław 2016. Künstler aus der Ukraine, Polen und Deutschland widmeten sich darin der historischen Umsiedlungsstrecke Lemberg–Wrocław – Dresden und der Vorstellung von Heimat, im symbolischen wie im räumlichen Sinn.

Das Thema spielt auch im Veranstaltungsreigen der Kulturhauptstadt Wrocław 2016 eine große Rolle. Nach Krakau ist es der niederschlesischen Metropole an der Oder als zweiter polnischer Stadt gelungen, diesen Titel zu erringen. Der Breslauer Stadtpräsident, Rafał Dutkiewicz, erhofft sich von dem ambitionierten Kulturprogramm eine Verdopplung der Besucherzahlen auf sechs Millionen. „Wrocław präsentiert sich als europäische Stadt mit einer einzigartigen Geschichte, eine Stadt mit einem reichen Kulturangebot, die sich dynamisch entwickelt. Wir möchten Brücken zwischen den Nationen bauen, die mit der Geschichte der Stadt verbunden sind, Brücken zwischen Vergangenheit und Zukunft, Ost und West.“

Brücken bauen will auch Andrzej Kosendiak. Er vertraut dabei auf die universelle Sprache der Musik. Der Dirigent ist künstlerischer Direktor des Musikforums in Breslau, das im Vorjahr eröffnet wurde und mit fünf Konzertsälen Platz für rund 2700 Menschen bietet. „Wir begannen unser Projekt vor zehn Jahren“, erinnert sich Kosendiak. Damals dachte noch niemand an die künftige Kulturhauptstadt Breslau. „Aber als wir uns dafür beworben haben, war das Musikforum ein wichtiges Argument dafür.“

Höchstes akustisches Niveau

Weil das Gebäude im ehemaligen Südflügel des Königsschlosses in der Nähe einer stark befahrenen Straße liegt, musste es vor allem sehr gut isoliert werden, um jegliche Vibration innerhalb des Gebäudes zu vermeiden. Als Material für die Wände wurde eine speziell für Konzertsäle produzierte Betonmischung verwendet.

„Wir wollten einen Raum für Musik auf dem höchsten akustischen Niveau schaffen.“ Das Programm des Musikforums umfasst nicht nur klassische Musik. „Wir bringen auch Jazz und Musik, die junge Leute interessiert“, sagt Kosendiak, denn „gerade in dieser Stadt mit ihrer problematischen Vergangenheit kann einzig und allein Kultur identitätsstiftend sein.“ Im Breslauer Musikforum wurde Ende Dezember auch der Europäische Filmpreis verliehen, eines der wichtigsten Events im Rahmen der Europäischen Kulturhauptstadt 2016. Neben dem Bereich Film, für den Roman Gutek als Kurator zuständig ist, haben noch eine Reihe weiterer Kuratoren das Programm für die Kulturhauptstadt erarbeitet: Zbigniew Maćków für Architektur, Irek Grin für Literatur, Agnieszka Franków-?elazny für Musik, Michał Bieniek für visuelle Künste, Jarosław Fret für Theater, Chris Baldwin für Performance und Ewa Michnik für Oper.

Mit einer gigantischen Performance wurde das Kulturhauptstadtjahr im Jänner offiziell eröffnet. Gemeinsam mit Hunderten von Freiwilligen aus Breslau und ganz Polen inszenierte der britische Performancekünstler Chris Baldwin „Przebudzenie“ (Erwachen). Darin ging es um den Bau, die Zerstörung und den Wiederaufbau Wrocławs.

Brücke nach San Sebastian

Mitte Juli fand das Independent-Filmfestival Nowe Horyzonty statt, von 25. bis 30. Oktober geht das American Film Festival über die Bühne, das US-Streifen abseits von Hollywood-Massenware auf die Leinwand bringen wird. Im Rahmen der Zusammenarbeit mit der nordspanischen Metropole San Sebastián, der zweiten Kulturhauptstadt 2016, präsentiert das Festival Nowe Horyzonty (noch bis 31. Juli) zudem einen Überblick über drei Generationen baskischer Filmemacher. Eine Brücke nach San Sebastian schlug auch das musikalische Event Tamborrada. Am Tag des Heiligen Sebastian verkleideten sich zahlreiche Breslauer nach baskischem Vorbild als Köche, Wasserträgerinnen oder Soldaten aus der Zeit Napoleons und zogen trommelnd durch die Straßen. Damit wurde das musikalische Jahr eröffnet, dessen Bandbreite weit gefächert ist.

Zu den noch ausstehenden Höhepunkten zählen die Wratislavia Cantans im September sowie Jazztopad, das One-Love-Sound-Fest und das Wrocław Industrial Festival im November. Insgesamt 54 Ereignisse umfasst die Sparte Musik im Rahmen des Kulturhauptstadtjahrs. Zu den Events zählen neben Musikfestivals auch das Chortreffen Singing Europe, das am 30. Juli und am 6. August 2016 im Nationalen Musikforum stattfinden wird.

Infos: auf Englisch auf der Website www.wroclaw2016.pl und unter www.wroclaw.pl auch auf Deutsch.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.07.2016)

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